Es gab schon schlimme Studentenjobs. Einen davon übte der Verfasser dieses Beitrags so um 1974 herum exakt eine Woche lang aus. Die Tätigkeit war heiß, aber gut bezahlt. Wenn ein Teil der Belegschaft der Gerresheimer Glashütte in den Urlaub fuhr, mussten halt studentische Aushilfen ran. Während die üblichen Lagerarbeiten, das hin und her schieben von Kästen, das Kontrollieren von Flaschen und allerlei Aufräumarbeiten langweilig, aber halbwegs bequem waren, galt die Arbeit in der Flaschenherstellung als Knochenjob. Man musste nämlich in regelmäßigen Abständen in die Halle mit den Flaschenblasmaschine, um dann an jeweils an einer bestimmten Stelle mit dem Pinsel eine Schmierflüssigkeit aufzutragen. Die Temperatur betrug laut Thermometer am Eingang immer mindestens 44 Grad.

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Firmengründer Ferdinand Heye ca. 1880 (Foto:  Rheinische Industriekultur)

Firmengründer Ferdinand Heye ca. 1880 (Foto: Rheinische Industriekultur)

Die Herstellung von Glas hat immer schon mit Hitze zu tun. Das Ausgangsmaterial entsteht in einem Schmelzprozess, und um das Glas verarbeiten zu können, muss es – so sagt man – eine honigartige Konsistenz haben. Und die entsteht in der Schmelzwanne – je nach chemischer Zusammensetzung – bei 1000 bis 1600 Grad. Mit der Verarbeitung von Glas war der 1838 in Bremen geborene Ferdinand Heye vertraut, denn zum Imperium seines Vaters zählte auch die Glashütte Schauenstein im niedersächsischen Obernkirchen, die 1799 gegründet worden war. Was immer den jungen Ferdinand daran fasziniert haben mag: Im Jahr 1864 ließ er sich sein Erbe von 30.000 Talern auszahlen und gründete die Gerresheimer Glashütte.

Schaubild der Glashütte 1892 (Bild: Rheinische Industriekultur)

Schaubild der Glashütte 1892 (Bild: Rheinische Industriekultur)

Mag sein, dass Ferdinand Heye einfach ein Näschen für bald boomende Industriezweige hatte – ein Auge für den geeigneten Standort hatte er auf jeden Fall. Denn das Gelände südlich und außerhalb der Stadt lag direkt an der Bahnstrecke Elberfeld-Düsseldorf, die als eine der ersten weit und breit seit 1842 im regelmäßigen Betrieb war. Nur so konnte er für die rationelle Anlieferung der Grundstoffe und den reibungslosen, schnellen Abtransport der Erzeugnisse sorgen. Heye ging es um die Flasche, also das, was man im Fachjargon Hohlglas nennt. Das wurde bis zur Jahrhundertwende selbst in den größten Fabriken noch handwerklich hergestellt, also von Glasmachern, die das flüssige Glas mit der Kraft ihrer Lungen in – damals noch hölzerne – Negativformen bliesen. Übrigens: Im Unterschied zum Glasmacher ist der Glasbläser jemand, der – wie man sagt – „vor der Lampe“ arbeitet, also Glas unmittelbar an der Hitzequelle formt; nicht unbedingt in eine hohle Form, sondern auch zu Perlen, Bällen und anderen Schmuckelementen.

Noch heute reicht die übliche Lehrzeit nicht, zum guten Glasmacher zu werden – man sagt, dass man erst nach gut zehn Jahren Berufserfahrung richtig gut ist. Das Knowhow, das Heye für seine geplante Produktion brauchte, war am Rhein und im Bergischen Land mangels einer größeren Zahl Glashütten kaum vorhanden. Also rekrutierte er ganz gezielt Glasmacher aus den deutschen Gebieten östlich der Elbe, denen er nicht nur Arbeit bot, sondern auch Behausung. Denn zwischen „de Hött“ und der Stadt lag jede Menge bis dahin bestenfalls landwirtschaftlich genutztes Land, das der Firmengründer mit Häuser für seine Arbeiter bebauen ließ. So entstand auch das legendäre „Hötter Platt“ als Mischung aus dem Niederdeutsch der Arbeitsmigranten und der ursprünglichen Bevölkerung Gerresheims.

Auch wenn die Heye’sche Glasfabrik schon sehr früh damit begann ihren eigenen Nachwuchs auszubilden, war die Glashütte immer auch auf „Gastarbeiter“ angewiesen. So kamen in den Sechzigerjahren Hunderte Familien aus Süditalien nach Gerresheim, um in der Hütte Arbeit zu finden – der Grund dafür, dass Gerresheim heute als „Little Italy“ Düsseldorfs gilt. Dass Menschen aus Italien besonders gern geholt wurden, hat übrigens gar nichts mit der venezianischen Tradition der Glasbläserei zu tun, denn schon nach dem ersten Weltkrieg wurden die Flaschen ausschließlich durch Maschinen gefertigt, für die vor allem hitzefestes Bedienpersonal gebraucht wurde.

Überhaupt steht die Gerresheimer Glashütte für den Übergang von der handwerklichen zur industriellen Flaschenherstellung. Kaum noch vorstellbar, dass 88 Glasmacher im Jahr 1865 allein mit Lungenkraft 800.000 Flaschen produzieren konnten! Dabei war die Kapazität vor allem durch die traditionellen Häfen (= Schmelzöfen) und die Anzahl der blasenden Glasmacher begrenzt. Die Erfindung des Wannenofens und seine Weiterentwicklung zum kontinuierlichen Schmelzofen durch Friedrich Siemens, bei dem die Schmelze nicht mehr einzeln und pro Tag oder Schicht erzeugt wurde, brachte eine drastische Erhöhung der Produktion möglich, weil einfach mehr Glasmacher mit dem Ausgangsstoff versorgt werden können. Man stelle sich vor, dass in der damals größten Glashütte der Welt im Jahr 1902 mehr als 150 Millionen Flaschen auf traditionelle Weise hergestellt wurden – von rund 5.300 Arbeitern.

Die  denkmalgeschützte Meistersiedlung jenseits der Bahnlinie (Foto: via Wikimedia)

Die denkmalgeschützte Meistersiedlung jenseits der Bahnlinie (Foto: via Wikimedia)

Ferdinand Heye war nicht nur einer der ersten Unternehmen neuen Typs wie sie die industrielle Revolution prägten, sondern jemand, dem das Wohl seiner Arbeiter am Herzen lag. Wie wir heute wissen nicht so sehr aus altruistischen, sondern aus unternehmerischen Motiven. Ihm war klar, dass nur zufriedene Glasmacher die gewünschte Qualität und Quantität würden liefern können. Zur Zufriedenheit, so seine Annahme, gehört auch ein funktionierendes Familienleben. Während früher die tägliche Arbeitszeit allein von der Menge der vorhandenen Glasschmelze abhing und deshalb völlig unregelmäßig war, stellte Heye mit der Einführung der kontinuierlichen Schmelzwannen auf Schichtbetrieb um, wobei eine Schicht nur 7,5 Stunden dauerte – dies zu Zeiten als in der Industrie Wochenarbeitszeiten von 60 und mehr Stunden gang und gäbe waren. Außerdem sorgte er durch den Bau des Viertels östlich der Hütte und der Meistersiedlung jenseits der Bahnlinie für kurze, familienfreundliche Arbeitswege.

Die Owens-Maschine von 1907 (Bild: Library of Congress)

Die Owens-Maschine von 1907 (Bild: Library of Congress)

Der massivste Einschnitt in der Geschichte der Herstellung von Glasflaschen kam mit der Erfindung der nach ihm benannten vollautomatischen Saug-Blas-Maschine durch Michael Joseph Owens, 1903 in den USA patentiert wurde und ab etwa 1905 zum konkreten Einsatz kam. Die Owens-Maschine machte schon in ihrer frühen Form den Beruf des Glasmachers im industriellen Bereich überflüssig. Das erkannte auch Hermann Heye (Ferdinands Sohn, der ab 1891 die Geschäftsleitung übernommen hatte), der einen fließenden, sozial verträglichen Übergang wollte, also 1907 gemeinsam mit anderen europäischen Flaschenherstellern das Patent kaufte und anhand eines mittelfristig angelegten Stufenplans von der manuellen Bläserei auf die Maschine umstellte, von denen jede einzelne 75 Arbeiter ersetzte.

Google-Map: Das Gelände der Gerresheimer Glashütte heute

Google-Map: Das Gelände der Gerresheimer Glashütte heute

Die weltweite Verbreitung der Owens-Maschine führte zur Gründung einiger Glashütten und sorgte dafür, dass selbst der Weltmarktführer aus Gerresheim kaum noch Wachstumspotenzial hatte. Da kam die Einführung der legendären Einmachgläser ab 1932 gerade recht. Die trugen den Markennamen Gerrix und das ebenso legendäre Signet: ein großes G, das eine dreizackige Krone trägt. Bis dahin war eine Traditionsmarke so führend in Deutschland, das der Name dem Einkochen selbst als Synonym diente: Weck. Die Herstellung solcher Einmachgläser (die übrigens auf Initiative von Napoleon zum Haltbarmachen von Lebensmittel für das Militär erfunden worden waren) ist deutlich anspruchsvoller als die von Flaschen, weil eine höhere Präzision und mehr Arbeitsschritte nötig sind. Aber Gerrix setzte sich auf breiter Front durch, und das Logo stand bald für das gesamte Unternehmen.

Im zweiten Weltkrieg blieb das Werksgelände von größeren Zerstörungen verschont, sodass man bereits 1946 wieder mit der Produktion beginnen konnte. Nicht nur das deutsche „Wirtschaftswunder“, sondern auch der zunehmende Trend zu konfektionierten Markengetränken in Flaschen sorgten für regelmäßiges Wachstum. Immer mehr Schmelzwannen und Maschinen wurden installiert, und die Belegschaft wuchs auf fast 8.000 Mitarbeiter. Niels von Bülow, der nun das Unternehmen leitete, gilt als Erneurer, der darüber nachdachte, ob und welche neuen Zweige man aufbauen und wo man durch Rationalisierungen sparen könnte. Gleichzeitig war er auf der Suche nach Partnern; einen passenden fand er in der Owens-Illinois, ja, genau dem Unternehmen, das seinen Weltruhm der Erfindung des Michael Owens zu verdanken hatte.

Lageplan der Glashütte von 1951 (Abb.: Rheinische Industriekultur)

Lageplan der Glashütte von 1951 (Abb.: Rheinische Industriekultur)

Die Owens-Illinois übernahm 1959 50,1 Prozent der Aktien und wurde nach dem vollständigen Rückzug der Familie Heye aus der Firma zum handelnden Mehrheitsaktionär – dies genau im Jahr des hundertsten Jubiläums der von Ferdinand Heye gegründeten Gerresheimer Glashütte. Der neue Inhaber setzte ganz (und früher als viele Unternehmen anderer Branchen) ganz auf Synergieeffekte zwischen seinen Beteiligungen, was für den Gerresheimer Betrieb vor allem die Reduktion auf die angestammten Geschäftsfelder bedeutete. Ab den späten Siebzigerjahren begann der Siegeszug der Kunststoffflaschen in der Getränkeindustrie, der schon sehr früh zu einem dramatischen Rückgang der Verkäufe von Glasflaschen führte. Die Situation brachte die Hütte gleich auf mehreren Gebieten deutlich ins Schwanken.

In den folgenden Jahren wechselten mehrfach die Mehrheitsaktionäre und Besitzer; verschiedene Geschäftsführungen dokterten an der Hütte herum, ohne dass sie jemals wieder die Bedeutung früherer Jahre erreichte. Schließlich wurde 2004 die Owens-Illinois wieder einmal Eigentümer und ließ die Produktion 2005 komplett einstellen. Offensichtlich erschien den Managern der Verkauf der Grundstücke auf lange Sicht betrachtet profitabler als eine Modernisierung des Werks und/oder die Einführung neuer Produkte, Produktlinien oder Geschäftsbereiche. Ab 2009 begann man mit dem Abriss der meisten Gebäude; aus dem Gelände soll das „Glasmacherviertel“ werden. Die Umsetzung gestaltete sich von Jahr zu Jahr schwieriger; einerseits, weil sich eine teilweise massive Belastung der Böden herausstellte, andererseits, weil hier und da erst einmal ermittelt wurde, ob und welche Bauten es im Untergrund gibt. Seit 2014 findet die Bodensanierung statt, wann mit dem Bau der aktuell geplanten 1.400 Wohnungen und der zugehörigen Infrastruktur begonnen werden kann, steht in den Sternen.

Das Gerrix-G am Eingang zur Anlage des TuS Gerresheim (Foto: DKP Rheinland Westfalen)

Das Gerrix-G am Eingang zur Anlage des TuS Gerresheim (Foto: DKP Rheinland Westfalen)

So lange erinnert der verglaste Turm mit dem Gerrix-G mitten auf dem brachliegenden Gelände an die Gerresheimer Glashütte, ihre Tradition und ihre Bedeutung für Gerresheim und Düsseldorf. Noch heute trägt der allgemein als TuS Gerresheim bekannte Sportverein offiziell den Namen „TuS Gerresheim und Glashütte e.V.“ Die Fußballabteilung trug über viele Jahre den Beinamen „die Kommunisten„, weil der Club nicht nur zu den echten Arbeitersportvereinen zählt, sondern weil es im Glashüttenviertel bei allen freien Wahlen immer im Vergleich zum restlichen Düsseldorf sehr hohe Stimmanteile für die jeweils existierenden kommunistischen Parteien gab. Auch dieser Spitzname dürfte sich bald erledigt haben…

[Titelbild: Foto-dus via Wikimedia unter der Lizenz CC BY-SA 4.0; Porträt Heye, Schaubild 1892 und Lageplan 1951: via rheinische-industriekultur.com; Meistersiedlung: Marek Gehrmann via Wikimedia unter der Lizenz GNU 1.2; Eingang TuS Gerresheim: DKP Rheinland-Westfalen]

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