Fürstenplatz, ein unscheinbares Klingelschild mit der Aufschrift „Thomas Schütte“. Wohnung und Büro des Künstlers befinden sich im ersten Stock. Direkt vor den Fenstern, der Industriebrunnen mit der „Versinnbildlichung der Eisenindustrie und des Bergbaues“, so der Titel des Wettbewerbs aus dem Jahre 1908. Fertig gestellt dann 1913: ein Ensemble mit drei imposanten Bronzefiguren; Schmied, Bergmann und Hüttenarbeiter in klassischer Perfektion.

„Es ist schon erstaunlich, zu was Künstler der vergangenen Jahrhunderte in der Lage waren. Auch wenn heutige Künstler diese Messlatte per definitionem nicht erreichen wollen, ich habe sie täglich vor Augen.“ Schütte macht eine nachdenkliche Pause und fügt hinzu: „Zuviel Klassik angucken ist nicht gut!“

Ich versuche nachzuhaken und erinnere an die „Fahnenträger“, deren Haltung sowie die Ausgestaltung von Kleidung und Gesichtszügen zwar mit den griechischen Idealen des Jugendstils wenig zu tun haben, sehr wohl aber an die „Kunst der Werktätigen“ aus den Dreißiger- bis Fünfzigerjahren erinnern. Gravierender Unterschied natürlich: die Füße der Fahnenträger stecken im Matsch.

Als Handwerker im Olymp der Internationalen Künstlerelite

Thomas Schütte - ein Selbstporträt

Thomas Schütte – ein Selbstporträt

Schütte lächelt: „Nun ja, es gibt schon noch andere Unterschiede. Aber Fakt ist, an Skulpturen wie diesen muss ich richtig arbeiten. Allein den Kopf des Fahnenträgers! Viermal habe ich ihn modelliert. Das ist dann echtes Handwerk. Total unmodern aus heutiger Sicht. Man braucht eine richtige Werkstatt, in der es raucht, in der die Maschinen bei der Bearbeitung der Oberflächen kreischen. Man braucht Kräne, Schwerlaster.“

Abrupt schwenkt er auf eine neues Thema: „Ja, ich habe Erfolg.“ Die Bemerkung klingt fast trotzig. „Eigentlich ist es sogar erschreckend, wie viel Erfolg ich habe. Aktuell wird wieder eine Frauenskulptur versteigert. Fast alles, was verkauft wird, übersteigt die Millionengrenze, manchmal sogar um ein Vielfaches! Was macht man mit Geld, wenn man es eigentlich nicht braucht? Einen Ferrari kaufen? Niemals, ich habe noch nicht mal einen Führerschein! Verschenken? Ich habe seit 2013 eine Stiftung aufgebaut und betreibe die Skulpturenhalle in Neuss mit Ausstellungen wechselnder Künstler.“

Das sei natürlich nicht immer so gewesen. Thomas Schütte erinnert sich. „Als ich in den Siebziger-, Achtzigerjahren an der Kunstakademie in Düsseldorf studierte, erlebten wir so etwas wie eine kollektive Depression. Atomraketen, die Russen kommen, eine neue Eiszeit. Mein innerliches Rückzugsgebiet war der Stoffeler Friedhof. Stundenlang konnte ich dort spazieren gehen und im Cafe am See Kuchen essen.“

Angst ist ein verdammt schlechter Ratgeber

Ein Grabmal als Wartehäuschen für die Bundesgartenschau

Ein Grabmal als Wartehäuschen für die Bundesgartenschau

1981 war dann das Jahr, in dem Schütte seinen Todestag festlegte. Ein schlichtes, rotes Holzhäuschen mit der Aufschrift: Thomas Schütte, 16.11.54 – 25.3.1996. „Ich gab mir 15 Jahre, ab 1981. Vielleicht ein indirekter Auftrag: So lange hältst du noch durch! Aber, oh Wunder, ich habe meinen Tod überlebt. Jahr für Jahr, bis heute. Noch immer ist der 25.3. für mich ein spezielles Datum, an dem ich, manchmal allerdings mit ein paar Tagen Verspätung, staune, dass ich noch am Leben bin.“

Schütte stellt fest, dass das Wichtigste, was er brauche, Ruhe sei. Er vermeide alles, was mit Aufregung zu tun habe. Das sei nicht immer leicht.

Thomas Schütte ist konsequent im Nein-Sagen

„Als man 1995 das ‚Haus des Gedenkens‘ in der KZ-Gedenkstätte Neuengamme einweihte, kündigte sich die Tagesschau an. Spektakulär in einer Zeit, in der das Thema KZ noch so tabuisiert war. Bedingung für den Dreh: Ich, der Künstler, müsse eine Rede halten. Und das noch am selben Tag! Ich sagte ab. Darauf hin die Tagesschau ebenfalls. Ich hab’s versaut… Aber mir ging es einfach zu schnell. Und, was ich hätte sagen sollen?“

Politik sei Aufregung, stellt Thomas Schütte fest; besonders das „Kasperletheater“, das die politischen Parteien unter der Überschrift „ob nun Merkel oder Klinsmann“ veranstalteten. Trotzdem, viele seiner Kunstwerke seien politisch gedeutet worden, bemerkeich. Ob er das
beabsichtigt habe. Schütte antwortet ausweichend. „Man kann es so sehen – oder aber nicht, jedenfalls nicht parteipolitisch.“

Während andere Künstler gerne mit einer Fülle intellektueller Deutungen aufwarten, gibt sich Schütte zurückhaltend. Stattdessen spielt er den Ball zurück. „Reporter heutzutage sind blind, der Titel ist viel wichtiger als das Sichtbare – ich versuche, mit dem Daumen und im Material zu denken.“ Als ich ihm daraufhin eine Deutung seiner Frauenserie anbiete, antwortet er wiederum ausweichend: „Ach, wie lang das schon her ist! Woher sollte ich heute noch wissen, was ich damals gedacht habe.“

Eine von Thomas Schüttes berühmten Frauenskulpturen

Eine von Thomas Schüttes berühmten Frauenskulpturen

Ich insistiere und verliere ein paar Kommentare über die unzähligen Frauenkörpern, die ganz im Gegensatz zu ihren männlichen Pendants nackt, platt gequetscht, mit verrenkten Gliedmaßen auf Tischen und in Regalen in teilweise sehr unzüchtiger Stellung den Blicken des Publikums preisgegeben werden. „Nun ja, es gab damals eine turbulente Zeit, viel Frustration, Gewalt!“ räumt Schütte jetzt lächelnd ein. „Aber die Serie ‚Frauen‘ wurde nach fünf, sechs Jahren beendet, leider, aber mir fiel nichts mehr ein.“

Der „Mann im Matsch“ – ein weiteres Motiv, das wieder und wieder auftaucht. Auch hier biete ich eine mögliche Deutung an: Symbol für die seelische Zerrissenheit des Künstlers? Er steckt fest, kann sich nicht frei bewegen?

Mann ohne Gesicht – vor dem Malkasten in Düsseldorf

Thomas Schütte: Mann ohne Gesicht

Thomas Schütte: Mann ohne Gesicht

Wieder hört Schütte wohlwollend zu. Sein Kommentar: „Eigentlich war es ein Zufall. Bei meinem ersten Modell fiel das Männchen wiederholt um. Der ‚Matsch‘ hat dies höchst wirkungsvoll verhindert.“ Noch einmal kommt Schütte darauf zurück, wie gut er es im Leben getroffen habe. „Ich bin frei, ich habe Geld – sogar zu viel davon. Ich kann zwei oder drei Jahre im Voraus produzieren ohne einen Auftraggeber, der mir Vorschriften macht. Ob ich eine Ausstellung mache oder nicht? Einzig und allein meine Entscheidung. Ich habe auch keine Werkstatt mit 50 Leuten, die ich am laufen halten muss. Ich muss noch nicht einmal morgens aufstehen, wenn ich nicht will.“

Es klingt ein bisschen so, als müsse er sich verteidigen. Dafür, dass es ihm zu gut geht? Dafür, dass er nicht, wie andere berühmte Künstler, Scharen von Studenten um sich sammelt? Dafür, dass er niemals zu einer Demo gehen würde? Dafür, dass er noch nicht einmal den Anspruch habe, sich als Redner vor großem Publikum zu profilieren?

Leben – mit Sinn oder ohne?

Auf meine Frage, ob es irgendetwas im Leben von Thomas Schütte gebe, das er, wenn er die Möglichkeit dazu hätte, anders machen würde, bekomme ich abrupt ein klares Nein. Ich versuche es noch einmal anders. Ob Thomas Schütte zu den wenigen Auserwählten gehöre, die mit sich und der Welt zufrieden seien? Die den wie auch immer gearteten „Sinn des Lebens“ gefunden hätten?

Der Künstler bleibt die Antwort schuldig. Aber bereits zu Anfang des Gesprächs hatte er mir einen kleinen Einblick in seine Überzeugungen gewährt: „Natürlich glaube ich an etwas. Ich glaube an das Wunder der Natur. Ich staune ehrfürchtig, dass mein Körper, obwohl er jetzt schon 65 Jahre alt ist, immer noch funktioniert. Ich glaube an die Existenz von höheren Mächten. Vielleicht bin ich deswegen nie aus der Kirche ausgetreten, obwohl es verdammt teuer ist.“

Er lächelt. „Aber was das Wichtigste ist: Ich habe keine Angst mehr. Wie sollte ich; schließlich habe ich meinen Todestag überlebt.“

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