Meine Mutter war auf merkwürdige Weise amüsiert: „Und da hat der Werner nur so einen gestreiften Beutel an…“ Sie kicherte, und das tat sie sonst nie. Wir saßen am Frühstückstisch. Die Eltern waren am Vorabend zu Gast beim Chef des Vaters gewesen, der hatte ihnen Filme vom FKK-Urlaub mit Frau und Kind auf Korsika gezeigt. Nicht dass es bei uns prüde zugegangen wäre, aber dass man die ganzen Ferien über nackig rumlaufen könnte und alle anderen Leute auch, das kam den Eltern schon merkwürdig vor. Was dieses Thema anging, waren Werner und Hilde ein Traumpaar. Schließlich hatte sie vor der Hochzeit einige Jahre als Schönheitstänzerin gearbeitet. In einer Nachtbar namens „Bocksbeutel“, die damals noch dem Rotlichtmillieu zugerechnet wurde. Aber Werner, der mit seinem soziophoben Bruder gemeinsam die vom Vater geerbte Firma führte, war ohnehin Nonkonformist. Der verkehrte im Düsseldorfer Nachtleben, verstand sich zu amüsieren und war großer Fan des Catchens, das damals noch einen ziemlich zweifelhaften Ruf hatte und als Vergnügen für Verbrecher galt.

Erst Hilde zähmte ihn, und es ist nichts bekannt darüber, dass er je fremdgegangen wäre. Welcher Mann, der mit Hilde verheiratet sein konnte, wäre je fremdgegangen? Sie war der Prototyp einer Fünfziger-Jahre-Schönheit, und ich weiß, wovon ich reden. Denn sie war meine Babysitterin. Wir wohnten damals im Dachgeschoss eines Hauses, das nach Bombenschäden mehr oder weniger notdürftig wiederaufgebaut worden war. Unsere Wohnung bestand aus zwei kleinen Zimmern und einer etwas größeren Wohnküche. Die Dachschräge begann etwa auf einsfünfzig, und wenn wir Kinder aus dem Fenster schauen wollten, mussten wir uns ein Fußbänkchen ranholen. Wie damals noch üblich, gab es kein Badezimmer, und das Klo lag eine halbe Treppe tiefer. Das wurde nicht nur von uns benutzt, sondern von der Nachbarsfamilie, die ebenfalls zu viert waren. Und von Hilde.

Badetag
Denn Hilde bewohnte in jenen Jahren das winzige Zimmer unter der Vollschräge auf der anderen Seite des Treppenabsatzes. Der Raum ging nach hinten raus und war gerade einmal so groß, dass ein schmales Bett hineinpasste sowie ein Tischchen samt Stuhl. Ihr Kleidung hing an Nägeln, die in die einzig gerade Wand geschlagen waren. Tageslicht fiel durch eine Dachluke über dem Fußende. Wie gesagt: Hilde arbeitete als Tänzerin und hatte einen entspannten Umgang mit dem Nacktsein. Meine Eltern kümmerten sich um die junge Frau, die auf krummen Wege in die Stadt und in dieses Haus gelangt war. Deshalb war es selbstverständlich, dass sie bei uns ihre Bäder nehmen konnte.

In der Küche gab es neben dem modernen Gasherd auch noch einen Kohleofen mit gusseiserner Platte. Auf dem wurde das Wasser heiß gemacht. Dazu diente der voluminöse Topf, der ansonsten zum Einwecken benutzt wurde. Mitten im Raum stand am Badetag eine Zinkwanne, die dann Topf für Topf mit heißem Wasser befüllt wurde. Das bedeutete, dass die Küche samstags ab Mittag blockiert war. Gebadet wurde in fester Reihenfolge in derselben Brühe, das bei Bedarf mit weiterem heißen Wasser auf Temperatur gebracht wurde. Wer zuerst, wer zuletzt in die Wanne ging, weiß ich nicht mehr.

Natürlich bekam Hilde ihr eigenes Wasser. Sobald die Wanne voll war, klopfte meine Mutter an ihre Tür, und die junge Frau kam rüber – nackt oder bestenfalls mit einem kleinen Handtuch bedeckt. „Was macht denn die so lange?“ höre ich meinen Vater noch sagen, wenn Hilde wieder einmal mehr als eine Stunde lang badete. „Die hat doch diesen Herrn kennengelernt. Mit dem hat sie heute Abend ein Rendezvous“, antwortete meine Mutter. In welcher Eigenschaft Hilde sich mit Herren traf, blieb im Unklaren. Mit Werner wurde sie jedenfalls ein paar Jahre später von meinem Vater verkuppelt.

Nachtbar
Jedenfalls war Hilde in den Jahren bevor ich in die Schule kam meine allerbeste Freundin, die mich gern mitnahm, wenn sie bummeln ging, oder mit mir etwas unternahm, wenn meine Mutter um Entlastung bat. So kam ich auch etliche Male in diese Nachtbar am Mintropplatz. In meiner Erinnerung ist der „Bocksbeutel“ eine plüschig-rote Höhle mit kleinen runden Tischen, an denen immer nur höchstens drei Personen Platz fanden. In der Mitte eines jeden Tisches war eine schummrige Lampe fest verschraubt – warum auch immer. Hinter der Theke wienerte eine ältere Dame mit weißblonde Haaren unentwegt Gläser. Jedenfalls sah ich sie nie etwas anderes tun. Rechts davon war die winzige Bühne ohne Vorhang. Ganz rechts außen stand ein weißes Klavier, aber an den Pianisten, der die Proben und wohl auch die Vorstellungen begleitete, erinnere ich micht nicht. Denn meistens war gerade Probe, wenn Hilde mit mir in der Bar einlief.

Vermutlich habe ich im Alter zwischen drei und sechs mehr nackte Frauen gesehen als die meisten Männer jener Jahre in ihrem ganzen Leben. Und damals waren es noch Frauen, die den Schönheitstanz, der später allgemein Striptease genannt wurde, betrieben. Breite Hüften und große Brüste entsprachen absolut dem Schönheitsideal der Zeit. Die Männer waren noch Kerle, die keine Angst vor richtigen Frauen hatten, und keine Weicheier wie heute, die dünne, androgyne Mädchen bevorzugen und bei einer Dame im Fünfziger-Jahre-Format nach der Mama greinen und weglaufen würden. Es waren wohl sechs oder sieben Tänzerinnen, die ihre Kunst im „Bocksbeutel“ zeigten. Während der Proben legten sie übrigens jedes Kleidungsstück ab, aber ich meine, mein Vater hätte einmal erzählt, dass das sonst nur geschehe, wenn die Bar von einer geschlossenen Gesellschaft gebucht wäre. So saßen die Darstellerinnen im Raum, manche nackt, manche im dünnen Morgenmantel, und sahen sie, wie die Kollegin auf der Bühne arbeitete. Ich weiß noch, dass da eine im Vergleich dünne Frau, ja, ein Mädchen dabei war, die selbst für damalige Verhältnisse – Sonnebräune galt noch lange nicht als schick – ausgesprochen blass war und immer sehr traurig schaute. Die mochte ich sehr. Aber eigentlich war Hilde mit Abstand die allerschönste für mich.

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