[Dieser Beitrag erschien erstmals am 10.11.2017 – wir finden, er ist es wert, wiederholt zu werden.] Natürlich war der Martinstag für mich als Kind etwas Besonderes: Ich habe am 10. November Geburtstag, und das brachte mir an Sankt Martin einen unschätzbaren Vorteil, von dem noch die Rede sein wird. Traditionell gab es bei uns an diesem Tag Weckmänner zum Frühstück, also diese Süßbrotfiguren mit Rosinenaugen und Tonpfeife. An der zu nuckeln, brachte einen stumpfen, erdigen Geschmack in den Mund. Aber wenn die Röhre zwischen Pfeifenkopf und Mundstück ordentlich durchstoßen war, konnte man das Ding gut gebrauchen – zum Seifenblasenmachen und, ja, auch zum Rauchen von geklautem Zigarettentabak. Meist hat wir zwei große Weckmänner, die dann in Stücke zerlegt und aufgeschnitten wurden wie Mürbchen. Vor das wichtige Gripschen hatten die Erwachsenen leider den Martinszug gesetzt.

In meinen Kinderjahren wohnten wir an der Corneliusstraße, also war der Martinszug von St. Peter am Kirchplatz unser Ziel. Ich war ein ängstliches Kind und fürchtete auch das Feuer. Deshalb machte es mir überhaupt keinen Spaß, mit der Laterne zu gehen. Denn die war aus Papier, und darin brannte eine Kerze – die elektrische Martinslaterne war noch nicht erfunden. Und weil ich auch nicht gut im Basteln war, musste ich immer mit solch einer 08/15-Fackel herumlaufen. Am Schlimmsten war es dann bei der Mantelteilung, bei der die Kinder mit den brennbaren Laternen dicht an dicht vor dem Kirchenportal standen.

Die Mantelteilung und das Martinslied

Und dann auch noch dieses riesige Pferd! Habe ich erwähnt, dass ich eine Heidenangst vor Gäulen hatte? Tatsächlich ritt der Bilk-Friedrichstädter Sankt Martin immer auf einem weißen Kaltblüter, also vermutlich einem Brauereipferd von gewaltigen Ausmaßen. Mindesten einmal war ich dank meiner Eltern so nah (zu nah!) dran, dass ich mir in die Hose machte. Immerhin fand ich den Typ auf dem Ross ziemlich eindrucksvoll, auch wenn man sehen konnte, dass er Perücke und Bart aus Seegrasmatratze trug. Aber das Schwert, das war toll. Vor ihm hockte eine zerlumpte Gestalt am Boden, der arme Mann, der in diesem wunderschönen Martinslied besungen wird, das ich bis heute auswendig kann:

Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin
ritt durch Schnee und Wind,
sein Roß das trug ihn fort geschwind.
Sankt Martin ritt mit leichtem Mut:
sein Mantel deckt‘ ihn warm und gut.

Im Schnee saß, im Schnee saß,
im Schnee da saß ein armer Mann,
hatt‘ Kleider nicht, hatt‘ Lumpen an.
„O helft mir doch in meiner Not,
sonst ist der bittre Frost mein Tod!“

Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin zog die Zügel an,
sein Roß stand still beim armen Mann,
Sankt Martin mit dem Schwerte teilt‘
den warmen Mantel unverweilt.

Sankt Martin, Sankt Martin
Sankt Martin gab den halben still,
der Bettler rasch ihm danken will.
Sankt Martin aber ritt in Eil‘
hinweg mit seinem Mantelteil.

Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin legt sich müd‘ zur Ruh
da tritt im Traum der Herr dazu.
Er trägt des Mantels Stück als Kleid
sein Antlitz strahlet Lieblichkeit.

Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin sieht ihn staunend an,
der Herr zeigt ihm die Wege an.
Er führt in seine Kirch‘ ihn ein,
und Martin will sein Jünger sein.

Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin wurde Priester gar
und diente fromm an dem Altar,
das ziert ihn wohl bis an das Grab,
zuletzt trug er den Bischofsstab.

Sankt Martin, Sankt Martin,
Sankt Martin, o du Gottesmann,
nun höre unser Flehen an,
O bitt‘ für uns in dieser Zeit
und führe uns zur Seligkeit.

Die Legende vom römischen Offizier Martin, der seinen Umhang mit dem Schwert teile, um einem halberfrorenen Bettler eine Hälfte zu geben, rührt mich bis heute. Sie steht für mich immer noch für den Begriff „Solidarität“, dafür, dass der Bessergestellte dem Schlechtergestellten hilft, indem er abgibt. Und obwohl ich selbst kein Christ bin, steht diese Geschichte für mich für die gute Seite des Christentums. Wenn sich dann dumpfe Deppen aufs christliche Abendland beziehen und arme Flüchtlinge aus dem Land werfen wollen, werde ich deshalb wütend.

Gripschen bis der Arzt kommt

Nach dem alljährlichen Ritual ging’s für uns Kinder dann auf die Piste. Die Fackel hatte man bei sich zu tragen, und außerdem hatte Mutti einen Stoffbeutel mitgegeben, um die Beute vom Gripschen nachhause tragen zu können. Also fielen wir jeweils mit vier, fünf, sechs Kindern in einem Geschäft auf der Corneliusstraße und dem Viertel um den Fürstenplatz herum ein, sangen ein Liedchen und hielten die Hände auf. Natürlich waren die Ladenbesitzer vorbereitet und verteilten großzügig Süßigkeiten aller Art, aber auch Backwaren, Obst und je nach Branche kleine Spielsachen. Meistens reichte es, eine Strophe des Sankt-Martinslieds zu singen, aber manche Geschäftsleute bestanden auf der vollen Dröhnung. Puristen akzeptierten (das tatsächlich recht beliebige) „Ich geh mit meiner Laterne…“ nicht, sondern bestanden auf einem angemessenen Song.

Wenn es dann ans Verteilen ging, krähte ich immer ganz laut „Ich hab heute Geburtstag!“, denn das brachte mir gefühlte 50 Prozent mehr Gegripschtes ein. Mein Beutel war manchmal so schwer, dass ich zwischendurch nachhause eilte, um eine Zwischenleerung durchzuführen. Später habe ich dann den Ertrag natürlich mit den Geschwistern geteilt, also, so ansatzweise, bisschen wie Sankt Martin selbst. Und dann waren da noch die Ladenbesitzer, die nichts gaben. Die uns teilweise sogar verscheuchten. Das waren für uns die Geizhälse, und auf die war dann unser rheinischer Schmähruf gemünzt: „Dat Hus dat steht op ene Pinn, dä Jiezhals sitzt in dä Mitte drin – Jiezhals Jiezhals Jizhals!“ Hat aber auch nichts genützt.

Die Martins-Tradition

Das Rheinland und das Ruhrgebiet bis ins westliche Westfalenland hinein sind die Kerngebiete der Tradition der Martinszüge samt Mantelteilung. Wobei das Rheinische – und das ist sowohl historisch, als auch sprachwissenschaftlich sehr interessant – hier auch die Eifel, Luxemburg, Ostbelgien und die niederländischen Provinzen Limburg und Gelderland umfasst. Tatsächlich wird der Tag des Heiligen Martin im gesamten deutschen Sprachraum und in vielen anderen Regionen Europas gefeiert, aber jeweils auf andere Art.

Ich finde, Martinsumzüge, Mantelteilung und Gripschen sind wunderbare Traditionen, die es zu erhalten gilt. Und zwar nicht wegen irgendwelcher christ-europäischen Patridioten, sondern weil die Geschichte für etwas steht. Leider wird den Kindern heutzutage in den Schulen die Idee hinter der Legende und dem Fest kaum noch vermittelt, sodass es viele Pänz nicht die Bohne Ahnung haben, warum sie in den Geschäfte was geschenkt kriegen. Singen tun sie nicht, weil sie die Lieder nicht kennen. Das alles ist schade.

3 Kommentare

  1. El Pocho am

    Danke für diese Geschichte, die ich ob doch wesentlich jüngeren Jahrgangs und aus nem anderen Viertel stammend, ebenso für mich gelten lassen kann.
    Und dazu möchte ich jetzt eine neue Annekdote aus der jüngsten Vergangenheit beitragen. Obwohl in den letzten Jahre die hirnrissige Diskussio losging, ob es Martinszug oder Laternefest heissen solle, geben die tatsächlichen Umstände ganz eindeutige Signale. In Flingern zogen vorletztes Jahr eine Gruppe Schulkinder jeglicher Couleur zum Gripschen los. Martinslieder auf den Lippen strömten sie auch in eine Dönerbude.
    Der türkische Betreiber strahlte über das ganze Gesicht, hatte offenbar mit dem Andrang gerechnet und verteilte großzügig Bonbons an alle Kinder.

    Ich dachte nur: ja, passt!

  2. Ich kenn das von Kindergarten und Grundschule meiner Tochter (die jetzt knapp 13 ist) noch so, dass das volle Martinsprogramm mit Umzug, Mantelteilung und großem Feuer zelebriert wird. Und dass die Kids der Kopftuchmuttis da auch immer mittenmang dabei sind, war hier nie die Frage, soweit ich mich erinnern kann.

  3. Ich dachte als Kind immer, der Bettler hieße „Frostmein“ und sei „bitter“, weil er arm war. Also: …, sonst ist (bin ich), der bittere Frostmein, tot.“

    Laternenfest ist quatsch. St.-Martin! Früher im Kindergarten und jetzt in der Schule meies Sohnes machen alle Kinder und Eltern jeglicher Couleur gerne mit.