Am Heiligabend des Jahres 1979 stand ich in der Küche und putzte Rosenkohl. Nebenbei lief das Radio. Es werden die Acht-Uhr-Nachrichten gewesen sein, in denen die Meldung kam: Rudi Dutschke ist tot. Ich legte das Messer hin, ging ins Wohnzimmer und sagte zu meiner damaligen Freundin: „Rudi ist tot“. Wir haben beide ein bisschen geweint. Später lief ein Bericht. Rudi habe in der Badewanne einen epileptischen Anfall erlitten und sei dabei ertrunken. Der Anfall sei die Folge der Hirnverletzungen gewesen, die er beim Attentat durch Josef Bachmann am 11.04.1968 erlitten hatte. Dabei waren wir Rudi erst wenige Wochen vorher erstmals persönlich begegnet. Am 12. oder 13.11.1979 hatte es eine Podiumsdiskussion im Lise-Meitner-Gynasium an der Adlerstraße in Düsseldorf gegeben, an der neben Rudi Dutschke auch der ehemalige DDR-Dissident und Grünen-Mitgründer Rudolf Bahro sowie der Soziologe Karl August Wittfogel teilgenommen haben. Es ging um Alternativen zum sowjetischen Weg in den Sozialismus. Veranstalter war das ASG Bildungsforum, eine stockkatholische Weiterbildungsinstitution, bei der ich zu jener Zeit meinen Zivildienst ableistete.

Obwohl ich an der Organisation nicht unmittelbar beteiligt war, kam ich doch mit den drei Diskutanten in direkten Kontakt, ohne allerdings mit ihnen sprechen zu können. Trotzdem war ich von der Ausstrahlung Rudis erheblich beeindruckt. Ziemlich genau ein Jahr zuvor hatten wir in Düsseldorf die Vorläuferorganisation der Grünen begründet, eine bunte Truppe aus Alternativen, Ex-K-Grüpplern, Naturschützern und vor allem dem FIU-Kreis um Joseph Beuys. Gleich im Mai und Juni 1979 hatten wir uns dann in den Wahlkampf gestürzt, weil die versammelten Grünen Deutschlands damals unter dem Namen „Die Grünen SVP“ zur Europawahl antraten. Das „SVP“ steht für „Sonstige politische Vereinigung“ und besagt, dass die entsprechende Liste (noch) nicht den Status einer Partei hat. Die Bundespartei der Grünen wurde bekanntlich erst im Januar 1980 gegründet.

Die Grünen
Wir hatten dagegen im Dezember 1979 die Gründung der NRW-Grünen zu bewerkstelligen. Der entsprechende Parteitag fand in Hersel bei Bonn statt. Ich erinnere mich an eine ausgesprochen chaotische Veranstaltung mit extremem Streit – vor allem um die Frage der Doppelmitgliedschaft. Dieses Thema hatten die Kader der verschiedenen K-Gruppen aufgebracht. Ziel derer Initiative war es, den Mitgliedern der neugegründeten Grünen die gleichzeitige Mitgliedschaft in einer anderen Partei zu erlauben. Argumentiert wurde vor allem damit, dass nur so die Verbindung der Ökos zur Arbeiterbewegung erhalten bleiben könne. In Wahrheit – das war offensichtlich – ging es den Altkommunisten darum, auch in der neuen Partei als Kader alten Musters arbeiten zu können.

Tatsächlich verloren die Kommunisten alle entsprechenden Abstimmungen. Die nicht-kommunistischen, undogmatischen oder konservativen Kräfte hatten sich durchgesetzt. Einige Gruppierungen (ich glaube, vor allem die „MG“ genannten „Marxistischen Gruppen“) zogen aus. Nur wenige der Aktivisten trennten sich in der Folge von ihren kommunistischen Organisationen und wurden Mitglied der Grünen.

Die Podiumsdiskussion
Für meine Haltung zu diesem Thema war die Debatte zwischen Dutschke, Bahro und Wittfogel von großer Bedeutung. Denn an diesem November-Abend wurde mir klar, dass man als Grüner nicht nur gegen den Sozialismus sowjetischer Prägung sein musste, wollte man die Grundwerte (damals: „ökologisch, sozial, basisdemokratisch, gewaltfrei“) vertreten, sondern vor allem gegen alle neo-stalinistischen Bestrebungen und auch gegen jede leninistische Richtung. Im Grund ging es bei der Diskussion darum, dass der Sozialismus à la Sowjetunion, aber auch à la Rotchina ohnehin ein Ergebnis der so genannten „asiatischen Produktionsweise“ und deshalb auf den europäischen Kultur- und Wirtschaftskreis nicht übertragbar sei.

In diesem Punkt waren sich die drei auf dem Podium einig. Und das obwohl alle drei sich als Personen beschrieben, die den Sozialismus anstrebten. Allerdings nach neuem Muster. Bahro war durch sein Buch „Die Alternative“ berühmt geworden, dass er illegal in den Westen geschmuggelt hatte, wo es erschien und eine breite Debatte auslöste. Dutschke hatte sich immer kritisch zu Bahro und dessen Buch geäußert; er warf ihm vor, im leninistischen Denken verhaftet zu sein. Wittfogel hatte dagegen in seinen Werken immer wieder von der „Orientalischen Despotie“ und deren Wirken im russischen und chinesischen Kommunismus gesprochen. Seine These war – sehr verkürzt dargestellt – dass durch die Spezifika des asiatischen Kulturkreises demokratische Elemente im Sozialismus nicht möglich wären, die westlichen Sozialisten und Kommunisten sich also nicht daran orientieren sollten. Diese These wurde in den Zeiten des Kalten Krieges gern von Vertretern des westlichen Kapitalismus‘ gegen das kommunistische Lager benutzt. Dutschke hatte sich dagegen mehrfach wohlwollend zu Wittfogel geäußert.

Bahro und Dutschke verband ja die Abkehr von der DDR. Während Dutschke als sehr junger Mann aus sehr persönlichen Motiven geflohen war, verließ Bahro erst im Oktober 1979 nach fast zwei Jahren Haft in einem DDR-Knast den angeblich „sozialistischen“ Staat auf deutschem Boden. Man hatte ihm wegen seines Buches den Prozess gemacht, ihn aber wegen Geheimnisverrats verurteilt. Bahro war in den sechziger und bis weit in die siebziger Jahre ein hoher Führungskader der DDR, der sich erst kritisch mit dem Staatswesen auseinandersetzte, als basisdemokratische Ansätze in Betrieben, mit denen er zu tun hatte, im Keim erstickt wurden. Bahro ging es in der Folge und in seinem Buch daher immer vorrangig um die Frage nach der demokratischen Mitbestimmung der Menschen.

Rudi Dutschke
Nach dem Attentat war Rudi mit seiner Familie durch Europa gezogen auf der Suche nach einem Ort, an dem er leben konnte. So landete er nach einem längeren Aufenthalt in England schließlich im dänischen Århus, wo er ab 1970 als Dozent arbeiten konnte. Ab etwa 1972 bereiste er auch wieder die Bundesrepublik, verfolgte die politischen Ereignisse, nahm Kontakt zur RAF auf, äußerte sich aber nicht öffentlich. Erst im November 1974 trat er öffentlich in Erscheinung – und zwar ausgesprochen medienwirksam. Zur Beerdigung des RAF-Mitglieds Holger Meins, der am 09.11.1974 an den Folgen seines Hungerstreiks gestorben war, erschien er in Begleitung des Anwalts Otto Schily. Am offenen Grab hob er die Faust und sagte – gut hörbar für die Mikrofone der Journalisten – „Holger, der Kampf geht weiter!“

Die Medien nahmen dies zum Anlass, Dutschke in die Nähe des bewaffneten Kampfes der RAF zu rücken. Dabei hatte Rudi sich in mehreren Begegnungen mit RAF-Mitgliedern ablehnend gegenüber deren Theorie und Praxis geäußert. Sicher darf man sich Rudi Dutschke nicht als durch und durch gewaltfreien Pazifisten vorstellen, den vor dem Attentat hatte er ja mehrfach und öffentlich erklärt, dass es historische Situationen gäbe, in denen die Massen gegen die herrschende Klasse zu den Waffen greifen müsse. Die Aktionen der RAF verurteilte er dagegen als kleinbürgerlich und kontrarevolutionär. Deshalb äußerte er sich in einem Leserbrief zu seinem Spruch auch folgendermaßen:

‚Holger, der Kampf geht weiter‘ – das heißt für mich, dass der Kampf der Ausgebeuteten und Beleidigten um ihre soziale Befreiung die alleinige Grundlage unseres politischen Handelns als revolutionäre Sozialisten und Kommunisten ausmacht. […] Die Ermordung eines antifaschistischen und sozialdemokratischen Kammer-Präsidenten ist aber als Mord in der reaktionären deutschen Tradition zu begreifen. Der Klassenkampf ist ein Lernprozess. Der Terror aber behindert jeden Lernprozess der Unterdrückten und Beleidigten. [Quelle: Wikipedia]

Möglicherweise durch die vielen Gespräche mit Schily, aber auch vielen alten Bekannten aus 68er-Tagen näherte sich Dutschke in den folgenden Jahren immer mehr der alternativen Bewegung an. Im Herbst 1979 schien es möglich (und von vielen erwünscht), dass dieser Rudi Dutschke nicht nur Mitglied der grünen Partei werden würde, sondern dort eine führende Rolle spielen könnte. Manche sahen in ihm die natürliche Verbindung zwischen der 68er-Bewegung und den Grünen, einen Vertreter von notwendigen Positionen, mit denen eine Ökologisierung in die Bedeutungslosigkeit einerseits und eine durchgehende Sozialdemokratisierung andererseits verhindert werden könnte.

Der viel zu frühe Tod Rudis hat das verhindert und den Grünen eine Petra Kelly als Spitzenkandidatin, einen fast zehn Jahre dauernden Flügelkampf und vor allem eine völlige Zerstörung grüner Werte durch die Schröder-Fischer-Bande ab 1998 beschert.

Vielleicht habe ich deshalb am 24.12.1979 um Rudi Dutschke geweint.

[Zuerst erschienen in der Rainer’schen Post im Dezember 2009]

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