Rezept · Nachdem die Menschen in der Bundesrepublik des Wirtschaftswunders den gröbsten Nachkriegshunger gestillt hatten, stand ihnen der Sinn nach dem, was sie sich unter der gehobenen Küche vorstellte – gerade im damals schon schicken Düsseldorf. Die war bis weit in die Siebzigerjahre den Reichen und Schönen vorbehalten, und Vati und Mutti bleib nichts anderes übrig, als sich an Clemens Wilmenrod zu orientieren, wenn Dr.-Oetkers-Haushaltskochbuch nichts Besonderes hergab. Raffiniert sollte es sein, wenn man den Gästen zu den Festen Speisen im Vorbeigehen reichen wollte – die kalte Platte war ab etwa 1960 der Hit auf jeder privaten Feier. Leider sind manche der damaligen Spezialitäten zu Unrecht in Vergessenheit geraten. Angesichts der Ernährungswellen der Jetztzeit sind Dinge wir Schinkenröllchen und Russenei furchtbar fettig, aber eben lecker.[Lesezeit ca. 5 min]

Aus heutiger Sicht scheint es, als sei es zwischen ca. 1955 und 1970 beim Fressen immer nur ums Fleisch gegangen. Weit gefehlt! Der bundesdeutschen Durchschnittsfamilie fehlte es einfach am Budget, um tagtäglich Fleisch und Wurst zu servieren; studiert man zeitgenössische Berichte, hat beispielsweise die fünfköpfige Arbeiterfamilie an maximal zwei Tagen pro Wochen ein Essen auf dem Tisch gehabt, bei dem ein Batzen Fleisch im Mittelpunkt stand. Allerdings gehörte natürlich Speck in den Eintopf und/oder Würstchen, und die vergleichsweise billige Flönz sowie die ebenfalls preisgünstige Fleischwurst ersetzten oft das Kotelett und die Frikadelle. Auf dem Land, quasi an der Quelle von Schwein, Rind und Hühnchen, sah das anders aus, da gab es Fleischiges im Überfluss.

Ohne Ei ging gar nichts

Flönz und Fleischwurst waren nicht die einzigen Ersatzteile für richtiges Fleisch – das Hühnerei spielte eine herausragende Rolle. Eier in Senfsoße mit Salzkartoffeln und einem begleitenden Kopfsalat galten als veritables Mittagessen. Der Stramme Max übernahm nicht selten die Hauptrolle beim warmen Abendbrot. Süße Pfannkuchen aus Ei, Milch und Mehl waren ein Lieblingsmittagessen der Kinder. Und wenn irgendwo Schnittchen als Finger Food gereicht wurde, galt die Version mit dem hartgekochten Ei drauf als Favorit. Kein Wunder, dass die Hühnerfrucht auch auf den kalten Platten ein gern gesehener Gast war.

Basis war in der Regel das hartgekochte Ei, das so lange gekocht wurde, bis es die Konsistenz eines Tennisballs annahm, das Dotter als total fest und ein wenig staubig wurde. Wie seinerzeit immer in solchen Fällen musste da eben Fett dran. Mayonnaise galt als Vertreter der feinen Küche, kam in teuren Tuben und wurde eher zum Verzieren verwendet. Anmerkung: Deshalb wurde der heimische Kartoffelsalat auch gern mit einer selbstgerührten, mit Essig und Senf gewürzten Frischeicreme angesetzt, die mit echter Majonäse wenig zu tun hatte. Die Liebe zum Ei als Bestandteil der kalten Platte kumuliert im aus heutiger Sicht annähernd absurden Fliegenpilzei. Man nehme ein hartgekochtes Ei, dem man am breiten Ende ein Scheibchen abschneidet, damit es auf ebener Fläche stehenbleibt. Man trenne von einer Tomate ebenfalls am unteren Ende eine Scheibe ab, kratze das Weiche heraus und setzte es als Hut auf die schmale Seite des Eis. Man nehme Tubenmajonäse und setze eine Reihe weißlicher Pünktchen auf den Deckel aus Tomate. Fertig.

Immer wieder Clemens Wilmenrod

Von dem, was der unvermeidliche Tim Mälzer in seiner ihm eigenen Sprachkreativität „Kulinarik“ nennt, war noch keine Rede, und der Besuch in einem Balkanrestaurant galt als Spitze der gastronomischen Exotik. Die Speisepläne – übrigens auch in den Kantinen der Firmen und Behörden, die nach statistischen Unterlagen um 1960 herum fast 30 Prozent der Erwachsenen ernährten! – waren langweilig. Mutti, die damals noch in den 90 Prozent der Familienfälle fürs Kochen zuständig war, fiel nichts mehr ein, und die Restfamilie murrte freitags „Bäh, schon wieder Kochfisch!“ Hilfe war in Sicht, und auch wenn der legendäre Clemens Wilmenrod weder der erste noch der beste Fernsehkoch war, ist es ihm zu verdanken, dass Kreativität in die Küche einzog – seine Vorgänger waren durchweg Spitzenköche, die Kochtechniken verwendeten und Kochgeräte benutzten, von der die Familienernähererin noch nie gehört hatte.

Der TV-Koch mit dem markanten Bart, der selbst nicht kochen konnte, traute sich was. Die mit einer Mandel gefüllte Erdbeere galt seinerzeit als Verrücktheit der Haute Cuisine, war aber eine aus der Not geborene Erfindung. Den Toast Hawaii hat er nicht erfunden, aber durch die Beifügung einer Cocktailkirsche verfeinert. Überhaupt hat er der Zuschauerin, die noch vorwiegend um die Kartoffel und Möhre herum dachte, jede Menge neuer Produkte nahegebracht. Zum Beispiel die Dosenananas, ohne die der Hawaii-Toast ja nicht funktioniert. Überhaupt Obst in Dosen. Immer mit der Begründung, dass man das gewünschte Obst ja nicht überall bekäme und außerhalb der Saison schon gar nicht. Und da kommen zwei Zutaten ins Spiel, die damals nach Luxus rochen: Dosenspargel und Dosenchampignons.

Die Erfindung des Champignons

Frische Pilze gab es bis weit in die Sechzigerjahre ausschließlich auf dem Markt, und zwar in aller Regel heimische und natürlich nur in der Saison. Der Champignon, später unverzichtbare Zutat des Jägerschnitzels, war noch nicht erfunden – außer in der Dose. Da hatte er die Größe einer mittleren Murmel, eine Konsistenz wie ein feuchter Radiergummi und kein störendes Aroma. Beim Spargel lag sie Sache anders – den gab es schon, aber eben nur in den Spargelregionen der Republik. Damals wie heute feierten die Menschen dort die Spargelzeit, indem sie so oft es der Geldbeutel hergab, die weißen Stangen kochten und mit Kartoffeln, zerlassener Butter und eventuell ein wenig Kochschinken verzehrten. Gut zwei Drittel der Deutschen waren von diesem Vergnügen ausgeschlossen, denn das, was die Anbaugebiete seinerzeit hergaben, reichte nur für die umgebende Region.

Wie gut, dass es Spargel in Dosen gab! Dem ging es schon ein bisschen besser als dem armen Champignon, denn aus den guten Konserven namhafter Hersteller kamen Stangen, die nach Spargel schmeckten. Während man heute Gläschen und Döschen mit kaum kleinfingerdicken kurzen Spargelchen bekommt, standen in den Feinkostläden große Dosen, in denen ausgewachsene Spargelstange hausten, die auf dem Teller aussahen wie frischer Spargel. Verkleidet mit holländischer Soße (die im Amateurbereich damals übrigens auf Basis einer Mehlschwitze erzeugt wurde – ehrlich wahr!) war solcher Dosenspargel vom Original kaum zu unterscheiden. Aber leider teurer als frische Ware in der Saison.

Der gekochte Schinken als Allzweckwaffe

Gekochten Schinken gab’s bei jedem Metzger, und die Fleischer vergangener Tage setzten solche Pökelbrocken selbstverständlich selbst an, weshalb kein Kochschinken schmeckte wie der andere. Es sei denn, man kaufte ihn in der Dose. Jawoll: in der Dose! Die dänische Fleischindustrie dominierte den Markt mit industriell bearbeitetem Schweinefleisch. Noch heute gilt Bacon aus Dänemark als gute Ware. In jedem der damals gerade aufkommenden Supermärkte gab es Frühstücksfleisch made in Danmark. Der Hit waren aber dreieckige Dosen, in denen ein passendes Stück Kochschinken im eigenen Aspik saß. Es gab Menschen, die machten den Block im Ganzen heiß und servierten ihn als Braten.

Der Nachteil: Man bekam so keine schönen, gleichmäßig runden Scheiben. Die musste man beim Metzger kaufen, der sie auf der Maschine in der gewünschten Stärke aufschnitt. Nun hatte man ein Produkt, in das man was einwickeln konnte. Das Ergebnis galt als Schinkenröllchen und war sehr lecker, wenn auch nur mit Messer und Gabel unfallfrei zu essen. Die klassischste Variante dieses Klassikers: zwei oder drei Stangen Dosenspargel eingewickelt in eine Scheibe Kochschinken. Fertig. Fantasievolle Köch*innen schmierten vor dem Wickeln Majonäse auf den Schinken oder wickelten Streifen von der sauren Gurke mit hinein. Besonders reichhaltig: Ein Spargel wird auf einem Bett aus Fleischsalat eingewickelt.

[In der nächsten Folge geht es weiter mit den Klassikern der kalten Platte im Sixties-Style: russische Eier und gefüllte Tomaten.]

[Bildnachweise – Schinkenröllchen: Schwäbin via Wikimedia unter der Lizenz: Creative Commons CC-by-sa-3.0 de]; Fliegenpilzei: Daniel Naber via Wikimedia unter der Lizenz: Creative Commons CC BY-SA 3.0]

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