Rund um die ersten beiden Spieltag der WM 2018 hieß es ja immer: Standards entscheiden die Spiele. Dies, weil die Statistiken sagten, dass so und so viel Tore nach ruhenden Bällen fielen. Weiter hieß es, dass sei so, weil gerade die „Kleinen“ so mauerten, dass keine Räume für tolles Kombinationsspiel entstünden. Nun zeigen die Ergebnisse, dass diese „Kleinen“ (die es ja laut einer Phrase gar nicht mehr gibt) mit dieser Taktik nicht besonders erfolgreich sind. Gewinnen tun die Mannschaften a) mit den besseren Einzelspielern, b) mit der moderneren Spielanlage und c) mit dem, was gern „Leidenschaft“ genannt wird. In dieser Hinsicht war die tolle Partie zwischen Japan und dem Senegal ein Lehrstück – und zwar für F95. Denn von den Japanern könnte das Team lernen, nicht abzusteigen. Wie das?

Kreative Abweichungen sind hochmodern

Die Mannschaft des Senegal hat nicht nur die schönste Aufwärmprozedur, sondern unter Trainer Cissé die vermutlich modernste Spielanlage aller 32 Teilnehmer. Die hat viel mit kreativen Freiräumen zu tun. Während Retromannschaften wie die DFB-Auswahl noch Systeme und Laufwege einstudieren und die Kicker beinahe aufgeschmissen sind, wenn der Gegner (siehe Mexiko) nicht so antritt wie erwartet, dürfen die Senegalesen ganz individuell abweichende Entscheidungen treffen. Merkt beispielsweise Mané, dass die Variante „Flanke-Kopfball-Tor“ gegen die kleinen Japaner nicht zieht, zettelt er das Spiel durch die Mitte an. Oder ein Abwehrritter wie Koulibaly stellt eigenhändig auf Dreierkette um, damit im Mittelfeld mehr Druck entsteht. Der Coach lässt das nicht nur zu, er unterstützt es – was man daran ablesen kann, dass er bei Systemabweichungen so gut wie nie eingreift. Nun hat dieses wunderbare Team aus Westafrika natürlich auch eine Tüte voller Spieler mit großer individueller Klasse, kann allerdings oft die Konzentration nicht halten, die das kreative Spiel erfordert.

Schauen wir uns unter diesen Bedingungen die aktuellen Favoriten auf den Titel an: Kroatien, England und Belgien. Immer dasselbe Bild. Es gibt in keinem dieser Teams mehr DEN Star (wie Ronaldo bei Portugal), sondern jeweils vier, fünf extrem gute Kicker, die aber nicht nur über die nötigen technischen Fähigkeiten am und mit dem Ball verfügen, sondern über die Traute, eigene Entscheidungen zu treffen – und zwar blitzschnell. Der Hauptunterschied zu den Senegalesen besteht darin, dass die Kicker der genannten Teams einfach die Konzentration länger halten können (und – um diesen Aspekt nicht zu vernachlässigen – bessere Standards spielen). Und trotzdem: Unsere glorreiche Fortuna könnte am meisten vom Team Nippon lernen, das ja einigermaßen unerwartet gegen Kolumbien gewonnen hat und gegen die Mannschaft aus dem Senegal ein Unentschieden holte.

Das japanische Modell

Es liegt ja auch nah für einen Verein, der seinen Aufstieg auch zwei japanischen Nationalspielern (Genki Haraguchi und Takashi Usami) verdankt und zu einer Stadt gehört, die näher an Japan ist als die meisten Städte Europas. Im Vergleich verfügt die japanische Auswahl nicht annähernd über die Zahl hochtalentierter Kicker wie die genannten Favoriten – also ähnlich wie F95 in der kommenden Saison im Vergleich zu vermutlich vierzehn, fünfzehn anderen Mannschaften in der Liga. Und so richtig modern kann man die Spielanlage der Nipponesen auch nicht nennen; nicht einmal besonders flexibel sind sie in Sachen System. Was aber das Spiel der Jungs mit dem roten Punkt auszeichnet: Durchgehend hoher Laufeinsatz, kontinuierlich konzentriertes Agieren und die Bereitschaft, über 90 Minuten (plus Extrazeit) um jeden Ball zu kämpfen. Es scheint, dass ein Team mit diesen Verhaltensweisen auch gegen Mannschaften bestehen kann, die mehr Talente aufweisen und eine moderne, flexible Spielanlage pflegen.

Um noch einmal auf das Thema „Standardsituationen“ zu kommen, die ja auch hierzulande nach dem Kroos’schen Freistoß in aller Munde sind, zurückzukommen. Jemand sagte kürzlich: Standard sind doch die einzigen Spielsituationen, in denen eine Mannschaft die volle Spielkontrolle habe, weil der Gegner gar nicht eingreifen darf. Beim inzwischen von allen Teams praktizierten ständigen Anlaufen, dem Doppeln und Trippeln und Verengen der Räume, bei denen es immer ums Stören und Auslösen von Ballverlusten geht, sind die Situationen bei Freistößen und Ecken geradezu paradiesisch. Ein Experte sagte dazu: Man kann gar nicht genug Standards trainieren – das sollte auch das Trainer-Team um Friedhelm Funkel beherzigen.

Beinahe noch wichtiger dürfte aber sein, den Spielern Methoden zu vermitteln, die Konzentration über die gesamte Spieldauer hochzuhalten … und eben das, was man oft mit den Begriffen „Willen“ oder „Leidenschaft“ beschreibt. Möglicherweise macht das Fokussieren auf diese Bereiche auch das Einüben von Systemen und Laufwegen eher unwichtig. Fortuna wäre gut beraten, sich eher an Japan zu orientieren als an den meisten „Kleinen“, die mit ihrem Mauerfußball am Ende ja doch nicht erfolgreich sind.

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