Analyse · Fußball ist auch eine Wissenschaft … geworden. Zu Zeiten der legendären „Schottischen Furche“ und des „WM-Systems“ konnte von Taktik im Kick kaum die Rede sein: Man spielte mit fünf Stürmern und hatte das Ziel, dem Gegner möglichst viele Eier in die Hütte zu legen. Eine Weisheit wie „Die Null muss stehen!“ widersprach dem Grundgedanken dieses Sports zutiefst, und weil die fünf Spitzen bei eigener Unterlegenheit ein wenig nutzlos waren, kam man auf die Idee der Manndeckung. Heute sind wir weiter, denn seit etwa Mitte der Fünfzigerjahre, also der Ära der ersten Trainerstars, geben die Coaches ihren Schützlingen einen Matchplan mit auf den Weg und weisen jedem Spieler Aufgaben zu. [Lesezeit ca. 7 min]

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Tatsächlich markiert der Übergang von der Mann- zur Raumdeckung den Beginn des modernen Fußballs und seiner taktischen Systeme. Ganz ähnlich wie beim American Football, der auch erst vor rund 50 Jahre verwissenschaftlicht wurde, erdachten Coaching-Genies wie der unvergleichliche Caesar Luis Menotti Aufstellungen, die sowohl die Defensivarbeit als auch den Angriff systematisierten. Die erste Bezeichnung für eine Position, die in diesem Zusammenhang entstand, war die des Liberos (englisch: Sweeper), denn der hatte keinen direkten Gegenspieler, war also im Wortsinn ein „freier Mann“. Dessen Aufgabe war es, einen gegnerischen Angreifer zu stoppen, der seinem Manndecker entwischt war.

Von der Mann- zur Raumdeckung

Die Sweeper der Sechzigerjahre ordnete man dem defensiven Mittelfeld zu; einer der prominentesten Vertreter dieser Art war Nobby Stiles, der eisenharte, englische Nationalspieler, der im WM-Endspiel von 1966 gegen Deutschland eine wichtige Rolle spielte. So wie der den altmodischen Ausputzer darstellte, so interpretierte der unvergleichliche Franz Beckenbauer die Rolle des Liberos auf moderne Art, indem er nicht nur defensiv tätig wurde, sondern quasi als Regisseur das Angriffsspiel einleitete. Weil die Spieler damals noch nicht mit individuellen, fest zugeordneten Rückennummern kickten, trugen sie die Positionsnummer hinten auf dem Trikot – und die lautete bei Beckenbauer (meistens) 5.

Zu Zeiten der schottischen Furche gab es eine solche Nummerierung noch nicht, denn die Rückennummer auf dem Trikot wurde in England erst 1928 (nach anderen Quellen 1933) verpflichtend eingeführt. Erst mit der großflächigen Einführung des WM-Systems Mitte der Zwanzigerjahre ergab sich eine Verbindung zwischen der taktischen Aufstellung und der Nummerierung. Übrigens: Die Rückennummer wurde eingeführt, um dem Schiedsrichter die Arbeit zu erleichtern, indem er die Spieler einfacher identifizieren konnte. Parallel wurde ein Formular mit den Namen und Nummern der Spieler verpflichtend. Während die schottische Furche noch ziemlich genau die festgeschriebene Formation aus dem Rugby abbildete, gilt das WM-System als erste soccer-spezifische Aufstellung.

Die Ära des Liberos

Das bedeutet: Der Libero (besonders im Beckenbauer-Stil) entspricht dem Mittelläufer alter Tage. Schaut man sich das WM-System daraufhin an, erkennt man, dass ein dezidiertes Mittelfeld nicht mitgedacht war. Es gab die drei Verteidiger, die beiden Außenläufer, die beiden Halbstürmer und die drei echten Stürmer. Übersetzt ins heutige Denken handelt es sich also um ein ziemlich modernes 3-4-3. Wobei: In Ketten hat man seinerzeit noch nicht gedacht. Das kam eigentlich erst mit der Abschaffung des Liberos ab Mitte der Neunzigerjahre.

Aus dieser Zeit stammt auch erst die Praxis, im Training das taktische System einzuüben. Heißt: Jedem Spieler wurde seine Position zugeordnet, die seine Rolle im Spiel definiert, und dazu die festgelegten Laufwege, die er zu gehen hat, damit seine Kollegen ihm ohne größeres Nachdenken Bälle per Pass und Flanke zuspielen können. Um die Kicker geistig nicht zu überfordern, übten die Trainer in aller Regel genau ein System ein. Nur die ganz Großen ihrer Zunft ließen mehrere Systeme trainieren und schrieben Varianten fest, mit denen man den Gegner während der laufenden Partie überraschen konnte.

Viererkette vs Libero

Das Kettenkarussell im modernen Fußball wurde in der Übergangszeit zwischen der Libero-Ära und der modernen Taktik erst zum Thema. Ab Ende der Neunzigerjahre waren die Fachmedien voll mit Diskussionen, bei denen es um „Libero vs Viererkette“ ging. Aber, der Libero ist nicht wirklich tot. Zum Beispiel bei der Mittelfeldraute, wo der Mann auf dem hinteren Zipfel nicht selten genau das spielt, was früher ein Libero trieb. Seitdem Uwe Rösler Trainer der glorreichen Fortuna ist, wird Käpt’n Adam Bodzek nicht selten auf dieser Position mit der entsprechenden Aufgabe eingesetzt.

Das Besondere an der Viererkette war, dass durch die Fixierung der Innenverteidiger auf die Verteidigung des Strafraums mehr Freiheit für die Außenverteidiger entstand, die nun meisten auch Offensivaufgaben übernehmen, ja, nicht selten als Außenstürmer agieren. Heute werden schon U15-Spieler mehr oder weniger stark auf ihre Position festgelegt, denn inzwischen gibt es in der Trainingslehre fein ziselierte Profile für jeden Posten im System, die von den Jungs verinnerlicht werden sollen. Das führt dazu, dass viele Profikicker im Laufe ihrer Karriere maximal zwei, drei verschiedene Positionen spielen.

Von Sechsern, Achtern und Zehnern

Zurück zur Nummerierung: Um eine taktische Formation halbwegs nachvollziehbar zu beschreiben, werden heutzutage bestimmte Positionen durch ihre (eigentlich altmodische) Nummer aus dem WM-System charakterisiert. So wie der Libero meist als „Fünfer“ betrachtet wurde, nennt man die beiden zentralen (oder einzigen echten) Mittelfelder kurz „Sechser“. Eigentlich ist der defensive Sechser legitimer Erbe des Vorstoppers, ein Kicker in alten Systemen, dem kein direkter Gegenspieler zugeordnet war, der als Raumdecker zwischen den Verteidiger (samt Libero) und der eigenen Sturmreihe dafür sorgte, dass zentrale Stürmer keinen Spaß an ihrem Tun fanden.

Weil also der defensivste Mittelfeldmann als „Sechser“ gilt, kam es zum Begriff der „Doppelsechs“, wenn eine Mannschaft mit zwei defensiven Akteuren zwischen den Strafräumen antritt. In der Regel findet eine Doppelsechs bei einem 4-4-2 statt, einem System mit zwei wesentlichen Varianten. Einer flachen Struktur (sehr selten), einer Raute oder einer 2+2-Version. Also: Nur in der Raute gibt es einen rein defensiven Sechser, aber eben auch einen sogenannten „Achter„. Dabei handelt es sich um einen Mittelfeldspieler, der dezidiert auch offensive Aufgaben hat und idealerweise auch persönlich für Torgefahr zu sorgen hat. Im aktuellen F95-Kader hat beim Sieg gegen Heidenheim Kuba Piotrowski einen ziemlich klassischen Achter gegeben.

Bleibt noch der Zehner, dessen Profil über viele, viele Jahre Kerle wie Lothar Matthäus und Stefan Effenberg geprägt haben. Bevor man diese spezielle Position mit einer Nummer versah, nannte man sie schlicht „Spielmacher„. Auch der Zehner gehört zum offensiven Mittelfeld, spielt meistens zentral und verteilt die Bälle auf die Außenpositionen. In den modernen Systemen findet man ihn eher selten; häufig wird seine Arbeit von einem etwas defensiver ausgerichteten Achter übernommen.

Revolution auf Außen

Spannend ist, was sich auf den Außenpositionen über die Jahrzehnte getan hat. Die oft als Flügelflitzer etikettierten Herren – beispielsweise der unvergessene Fortune Dieter Herzog – hatten genau eine Aufgabe: Immer an der Linie klebend ihre Seite hinauf und hinab zu rennen, um im passenden Augenblick Flanken auf den Mittelstürmer zu schlagen. Von dieser Sorte gab es in den älteren Systemen genau zwei: einer auf rechts, einer auf links. Im WM-System mit dem Fünfersturm gab es sie schon; von defensiven Aufgaben waren sie vollkommen befreit. Nun spielt heute keine Mannschaft mehr mit fünf Mann in der Offensive, im 4-3-3 und ähnlichen Systemen sind es maximal drei Angreifer, von denen aber niemand echter Außenstürmer ist.

Denn die Rolle des Rechts- bzw. Linksaußen übernehmen heute – meist im Wechsel – zwei Mann aus dem Vierermittelfeld und/oder die beiden Außenverteidiger. Allein diese Neuorientierung brachte eine Fülle taktischer Varianten mit sich, zumal die jeweils zwei Außen ihre Kooperation auf unterschiedlichste Weise interpretieren können. Gern genommen werden beispielsweise Kurzpasskombinationen zwischen den beiden und einem der offensiven Mittelfelder an der Ecke der „Box“ (wie der Sechzehner heute gern genannt wird). Diese Flexibilität führt auch dazu, dass kaum noch in starren Systemen, die hilfsweise in den Vorschauberichten der Medien gezeigt werden, gespielt wird.

Viele Systeme im Köcher

Im Gegenteil: Heutzutage ist es nicht ungewöhnlich, dass eine Mannschaft der oberen drei, vier Ligen in der Saisonvorbereitung drei, vier oder gar fünf Systeme samt zugehöriger Laufwege einübt und dass im laufenden Spiel auch ohne Auswechslungen zwischen den taktischen Systemen hin und her geschaltet wird. Was auch daran liegt, dass Kicker beim Eintritt in den Seniorenbereich immer mindestens eine zwei Position zu erlernen haben – niemand ist mehr nur Sechser, Achter oder Zehner. Fast jeder Sechser kann auch Innenverteidiger spielen, beinahe jede Sturmspitze kann auch offensives Mittelfeld.

Am meisten geändert hat sich aber vielleicht die Rolle des Torhüters, also des Mannes, der traditionell die 1 auf dem Trikot trägt. Galt es noch bis in die Zeiten von Rene Higuita als verrückt, wenn ein Keeper sich aktiv ins Spiel einschaltete, hat der vielleicht beste Tormann aller Zeiten, Manuel Neuer, erfolgreich den mitspielenden Torwart eingeführt. Das funktioniert bei Neuer und seinen Nachahmern nur, weil sie über fußballerische Fähigkeiten verfügen, also die Pille nicht nur abschlagen oder über ein paar Meter passen können, sondern in der Lage sind Bälle gezielt in die Spitze zu schlagen. Auch die Abwehr außerhalb des Strafraums, gern auch per Kopf, gehört dazu. Die Fortuna kann sich glücklich schätzen, in Flo Kastenmeier einen solchen Vertreter des modernen Stils im Kasten zu haben.

Gegneranalyse ist die Basis

Man glaubt es kaum, aber das gezielte Studium des Gegners in der Vorbereitung auf eine Partie hat einer der deutschen Trainergötter erfunden: Sepp Herberger. Der setzten bei Begegnungen zukünftiger Kontrahenten Leute auf die Tribüne, die das Spiel studierten und sich gezielte Notizen über die Stärken und Schwächen sowie über die Taktik der zu beobachtenden Mannschaft machten und ihrem Chef vorlegten. Das gab es vor der WM 1954 so noch nicht. Heute aber verfügen die Coaches über Analyse-Teams, die jede eigene Partie auf Video aufzeichnen, Standbilder erzeugen und grafisch kommentieren und dies nach Möglichkeit auch bei potenziellen Gegnern tun. Diese Bewegtbilddossiers helfen bei der Entscheidung für das taktische System und auch die Startaufstellung.

Wobei auch das zum modernen Fußball zählt, dass – bei ausreichend großem Kader und nicht sehr stark gefülltem Lazarett – das gewählte System in weiten Teilen bestimmt, welche Kicker beim Anpfiff auf der Wiese stehen. Das war früher anders, denn da richteten sich die taktischen Aufstellungen vor allem danach, ob die besten Spieler zur Verfügung standen. Ohne Beckenbauer konnten weder der FCB noch die Nationalmannschaft dieselbe Taktik verfolgen wie mit ihm. Sind genug gesunde Leute vorhanden, wird sogar die Besetzung der Auswechselbank am geplanten System bzw. an den möglichen Systemen eines Spiels ausgerichtet.

Ohne taktische Systeme kein Erfolg

Bei allem Anschein der Wissenschaftlichkeit: Wirklich trennscharf sind viele Begriffe, die heute vor allem die Berichterstattung in den Medien bestimmen, nicht. Zumal die Definitionen der Positionen in den führenden Fußballregionen oft anders verstanden werden. So unterscheidet sich die Terminologie in Lateinamerika stark von der in England, die wiederum vom Jargon, der in Spanien und Italien genutzt wird, und in der deutschen Fußballsprache wieder wiederum manches anders verstanden als woanders. Um es klar zu sagen: Angaben über Ketten und Sechser, Achter, Zehner sind immer Hilfskonstruktionen, nicht aber Beschreibungen nach Art von Ingenieurswissenschaften.

Fußballromantiker sehnen sich nach den Zeiten zurück, in denen eine Mannschaft, die aus elf Freunden bestand, alles wegputzen konnte. Sie halten nichts vom Denken in taktischen Systemen, ja, zweifeln nicht selten an, dass diese wirklich spielentscheidend sein können. Aber, je besser die Spieler global betrachtet werden, je stärker sie technisch beschlagen sind, je präziser Balleroberung, Ballbehandlung und Ballbehauptung beherrschen, je mehr Spielintelligenz sie entwickeln, je besser und länger sie die Konzentration halten können und je höher die physische und mentale Fitness ist, desto wichtiger wird die Taktik – und die wird durch die gewählten Systeme bestimmt. Ob man das mag oder nicht.

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