Man kann diese aberwitzige Partie so zusammenfassen, wie es ein schwäbischer Groundhopper in der U-Bahn tat: „Elfer drin, drei von sechs Alu-Treffer drin, und der MSV macht euch ein.“ Oder wie ein altgedienter Fortuna-Fan im ARAG-Trikot: „Die müssen wir zur Pause schon mit 4:0 weggehauen haben!“ Aber auch ein „Was für ein geiles Spiel beider Mannschaften!“ trifft es ganz gut. Denn das, was die glorreiche Fortuna und der so gar nicht glorreiche MSV da gestern auf den Rasen gelegt haben, war die randvolle Großpackung Fußball – da war alles drin.

Respekt dem MSV

Vielleicht muss man damit anfangen, dem Gegner den allumfassenden Respekt zu zollen. Da liegen die Streifenesel schon nach kaum sieben Minuten mit 0:2 hinten, schütteln sich ein bisschen und legen dann volle Lotte los. Und zwar so volle Lotte, dass die Fortunen eine Zeit lang nicht wissen wie ihnen geschieht. Es folgen zwei fette Chancen für die Duisburger in der 8. und 10. Minute, und dann rennt ein MSVler frei mit Ball durch den Sechzehner. Raphael Wolf kreuzt seinen Weg, berührt ihn wohl minimal. Zack, Elfmeter in der 11. Minute. Der Schütze versucht den Düsseldorfer Keeper durch einen bogenförmigen Anlauf zu verwirren, was ihm nicht gelingt, und – schwupps! – hält Wolf den Schuss. Wenn jetzt noch erwähnt wird, dass beide Fortuna-Hütten aus klasse Spielzügen entstanden, könnte man darauf kommen, dass die über 41.000 Menschen im Stadion ein komplettes Fußballspiel innerhalb von nicht einmal einer Viertelstunde gesehen haben.

Aber der Spielfilm geht weiter. Die Jungs von Funkel und Hermann ziehen ein ums andere Mal ein feines Spiel über außen auf, und auch wenn nicht aus jeder Flanke eine Chance wurde, hatte man bisweilen den Eindruck, dass den Duisburger die Sache zu schnell war und sie nicht selten den Überblick verloren. Was sie aber nie verloren, waren der Mut und der dringende Wunsch, das Ding zu drehen. Also galoppiert die Partie weiter. Am Ende der ersten Halbzeit stehen um die zwanzig Torschüsse auf dem Zettel, wobei die MSVler öfter auf Wolfs Kasten zielten. Wer unter den typischen Fortuna-Grantlern jetzt Plattitüden absondert wie „das Spiel aus der Hand gegeben“, war geistig nicht anwesend. Da passt die Sportreporter-Floskel von der „offenen Feldschlacht“ schon eher. Wobei eben beide Teams in der Defensive nie „offen“ standen.

Bormuth und Ayhan halten den Laden zusammen

Wie der junge Robin Bormuth im Verbund mit dem kaum ältere Kaan Ayhan den Laden zusammenhielt, an dessen linkem Ende Niko Gießelmann erneut einen perfekten Außenverteidiger moderner Prägung gab, während Julian Schauerte auf rechts zum zweiten Mal in Folge ein für seine Verhältnisse tolles Spiel machte, das war schon ziemlich überzeugend. Nun lechzt der gemeine Fan ja immer nach „der Mannschaft“, als den elf Freunden, die zusammen jedes Spiel beginnen und – ergänzt um maximal drei weitere Freunde – zu Ende führen. So meinten in der Halbzeit auch einige Fortuna-Freunde, die Coaches hätten ja wohl nun ihre Startelf gefunden. Das ist eine romantische, aber unrealistische Sichtweise: „Rotation“ heißt das Zauberwort. Diese Methode dient ja nicht nur dazu, die Belastung im Kader zu verteilen und schon gar nicht dazu, einzelne Kicker für Minderleistung abzustrafen, sondern erhöht die Flexibilität der Systeme. Womit wir beim modernen Fußball sind und Friedhelm Funkels Äußerung, so sehr unterscheide sich seine Trainerauffassung von der eines Nagelmanns nicht.

Soll sagen: Nein, ein Andre Hoffmann hat sich nicht aus der Mannschaft gespielt und Bormuth auch nicht in sie hinein. Nein, Lukas Schmitz steht nicht auf dem Abstellgleis. Selbst für Anderson Lucoqi wird es immer wieder einen Platz auf der Bank und auf dem Rasen geben; so wie gestern Taylan Duman als Auswechselspieler aufgeboten war. Und, nein, Adam Bodzek ist nicht raus, und Oliver Fink nicht drin. Und so weiter. Das Credo lautet: Die Trainer müssen für jeden Gegner Überraschungen parat haben und sich auf jeden Kontrahenten einstellen können – auch wenn einer laufenden Begegnung. Dass sie das fest im Griff haben, bewiesen Funkel und Hermann im Laufe der ersten Halbzeit, als sie völlig überraschend Jean Zimmer und Benito Raman die Seiten wechseln ließen, was die MSV-Verteidiger zumindest zehn Minuten lang in Verwirrung stürzte.

Raman und Zimmer von unschätzbarem Wert

Apropos: Den Wert dieser beiden Flitzer kann man in Worten kaum und in Zahlen schon gar nicht richtig ausdrücken. Die Anwesenheit dieser beiden Kurzen verleiht dem Spiel der Fortuna eine Schärfe, die es so nicht einmal in der Aufstiegssaison 2011/12 gegeben hat. Womit wir bei diesem unglaublichen 2:0 sind: Raman passt auf Henning, der flankt, Zimmer schießt, Fink fälscht ab. Zum Mitschreiben: Rouwen Hennings schlägt eine Flanke, die zu einer Großchance führt. Von wegen, der kann nur wühlen oder die Bälle ins Tor stochern! Hennings ist ja auch der König des Ballgewinns, weil er nie nachlässt, weil er den gegnerischen Kollegen ständig auf den Füßen steht. Prädikat: besonders wertvoll. Dann noch dieser Oliver Fink, den sie wegen seiner grauen Schläfen für einen alten Mann halten. Auch wenn ihm – und das war nie anders – nicht alles gelingt, was er sich vornimmt, ist er auf ähnliche Art wie Hennings der Schrecken der gegnerischen Abwehr, weil er immer da ist, immer draufgeht und seine Aufmerksamkeit hochhalten kann.

Kein schöner Tag war es für den Ex-Fortunen Tuggi Erat, der mit Raman so extrem überfordert war, dass er nach der Pause draußen bleiben musste. Schön wurde es auch nicht für Tormann Wolf. Der dengelte nach einer tollen Rettungstat kurz vor der Pause mit dem Schädel an den Pfosten. Dabei blieb es aber nicht: Dasselbe passiert ihm noch zweimal, und dann erwischt es ihn bei einem vogelwilden Abwehrakt in der 60. Minute am Knie. Gut einen Meter vor dem Sechzehner semmelt er einen MSVler um und kriegt nur Gelb, weil er zum Glück nicht letzter Mann war. Verletzt muss er runter, und Tim Wiesner kommt zu seinem ersten Pflichtspieleinsatz. Den er so souverän absolviert, dass ihm die Kollegen nach der Ehrenrunde das Mikro in die Hand drücken, damit er die Humba ansagt. Da wirkte er deutlich nervöser als vor seinem Kasten…

Feine Kombinationen

Das 3:0 entsteht aus einem perfekten Konter: Ballverlust der angreifenden Duisburger, langer präziser Pass von Hennings auf Raman, der den Torwart umkurvt und einnetzt. Aber das war’s noch nicht, weil der MSV nur zwei Minuten später zum Anschlusstreffer kam – und zwar als Resultat einer feinen Doppelpasskombination. Wie die Mannschaft vom Ende der U79 den Fortunen spielerisch überhaupt nicht unterlegen war; das war ein Kampf auf Augenhöhe. Und wenn der MSV auch insgesamt mehr Torschüsse produzierte, die Zahl der echten Torchancen war auf Seiten der Düsseldorfer höher. Ja, es hätte zur Pause auch schon 4:0 stehen können … aber genauso gut auch 2:2 oder gar 2:3… Wie wäre es weitergegangen, hätte der MSV-Schütze den Strafstoß versenkt? Fußball ist ein Konjunktivsport, und jedes Tor, jede versiebte Chance verändert den Lauf des Spiels unvorhersehbar.

Wen haben wir vergessen? Genau: Marcel Sobottka und Florian Neuhaus, die sich zu einer Art Glitter-Twins mausern, also sich zunehmend als eingespieltes Duo präsentieren, die das Geschehen im Mittelfeld jederzeit kontrollieren. Wobei die beiden Jungs gestern nicht gar so viel Kreativität versprühen mussten, weil sich das Offensivspiel der Fortunen fast immer über außen entwickelte. Was auch dazu führte, das Sobottka und Neuhaus im Gegensatz zu ihren bisherigen Auftritten so gut wie nie auf die Hütte des MSV schossen.

Die 53. Minute

Spitzenreiter wird und bleibt kein Team, dass neben Leistung und Leidenschaft nicht auch ab und an mal Massel hat. So viel Massel aber wie die Fortunen in dieser denkwürdigen Spielminute hatten, ist sehr, sehr selten. Und recht eigentlich hätte der MSV seinen tollen Einsatz hier schon mit einem Tor belohnen müssen. Der Liveticker auf bundesliga.de schildert die Szene ziemlich präzise so:

UNFASSBARE SZENE
Ohne Zweifel eine der kuriosesten Szenen der bisherigen Saison. Stoppelkamp bringt eine weite Flanke auf Oliveira Souza, der aus halbrechter Position im Strafraum abzieht. Stanislav Iljutcenko grätscht in den Versuch, der links vorbeigegangen wäre, hinein und lenkt den Ball an den linken Innenpfosten. Der Ball trudelt die Linie entlang, springt an den rechten Innenpfosten und von dort wieder ins Feld. Iljutcenko setzt nach und setzt den Ball aus spitzem Winkel erneut an den rechten Pfosten. Von dort springt der Ball gegen Wolf und wieder an den Pfosten. Dann klärt Bormuth. Verrückt! (Quelle: www.bundesliga.de)

Viele haben nachgezählt: In kaum fünfzehn Sekunden geht die Pille sage-und-schreibe viermal an den Pfosten! Wenn solche Dinger dann nicht reingehen, dann hat eine Mannschaft nicht nur das Glück des Tüchtigen, sondern irgendwo im Koffer auch einen passenden Voodoo-Fetisch, ein paar Kerzen in St. Lambertus und haufenweise Maskottchen im Schrank.

Aber selbst dieses Pech brachte das tolle Team des MSV Duisburg nicht davon ab, die Brocken hinzuschmeißen. Auch wenn dem einen oder anderen Kicker in Blauschwarz körperliche Schwächen schon anzusehen waren, steckten sie nie, nie, nie zurück. Eine solche Haltung macht das aus, was wir alle am Fußball lieben! Dies übrigens in einer vom gesamten Schiri-Team souverän und fehlerfrei geleiteten und von den Spielern fair geführten Partie, bei der selbst emotionale Ausbrüche einiger Akteure nie zu wirklich bösem Blut führten.

Pyro hat sich erledigt

Das, ähem, besondere Wesen weiter Teile der aktiven MSV-Fans ist hinlänglich bekannt, und die gemeinten Jungmänner tun immer wieder alles dafür, dass man ihr niedriges Niveau erkennt. So schön es war, mehr als 6.000 Leute in Blauweiß in der Gästeecke sehen zu können, so sehr konnte man auf die Idioten in deren Reihen wütend werden, die Polenböller und Fackeln in Richtung der Heimblöcke warfen. Natürlich lässt sich – auch wenn es DFB, DFL und von diesen abhängigen Schreib- und Sprechpuppen gebetsmühlenartig verteufeln – mit dem Feuer bengalischer Fackeln und farbigem Rauch eine stimmungsvolle Atmosphäre erzeugen, aber stupide Bengalo auf Bengalo abbrennen zu lassen, ist einfach nur blöd und überhaupt nicht stimmungsvoll. Die Fortuna-Freunde unter den Zuschauern haben es den Dumpfbacken im MSV-Block aber exakt richtig zurückgezahlt: Als die dritte Pyro-Welle lief, wurde diese einfach nur ignoriert. Vielleicht hätte Stadionsprecher Andre Scheidt gut daran getan, etwas anzusagen wie: „Liebe Freunde des MSV, nun lasst es mal gut sein mit der Zündelei; so wie ihr das macht, ist es bloß peinlich.“

Tatsächlich scheinen die Tage vorbei, als eine gepflegte Pyroshow noch die eigenen Anhänger bei Auswärtsspielen einschwor unter hinter den Ultras versammelte. Wie ja auch die Leitfunktion dieser Ultras auf der Süd beim Heimspielen deutlich abnimmt. Und das ist noch nicht einmal negativ gemeint, denn es bedeutet, dass eben Anfeuerungsgesänge und Schlachtrufe an vielen Stellen entstehen können. Wobei ein guter Kapo immer noch in der Lage ist, die Stimmung aus den Stehblöcken auf die Sitztribünen zu tragen. Das geschah gestern viel öfter als man es seit Langem erlebt hat.

Gegen Ende

Irgendwann bekam Raman Krämpfe und wurde gegen Takashi Usami ausgetauscht, der sich sehr bemüht zeigte und in der 74. Minute beinahe eine Kopie seines 1:0 beim FC St. Pauli produziert hätte. Noch später kam Emir Kujovic für den ziemlich ausgepumpten Hennings, hatte aber nicht eine einzige bemerkenswerte Szene. Im Gegensatz zu Usami, der in der 88. Minute frei vorm MSV-Keeper auftaucht, aber nichts draus macht. Da hatten die Duisburger aber schon kollektive Konditionsprobleme – ein Phänomen, dass man schon bei allen Gegnern mehr oder weniger beobachten konnte. Spricht dafür, dass das Funktionsteam auch auf dem Feld der Fitness eine perfekte Leistung abgeliefert hat.

Fortuna ist also wieder Spitzenreiter. Ja, der Tabellenstand ist nur eine Momentaufnahme und wir müssen von Spiel zu Spiel schauen. Aber zur Mitte der Hinrunde kann man sich als Freund des TSV Fortuna Düsseldorf 1895 doch schonmal Gedanken darüber machen, wo das alles noch hinführen kann. Fußball – es wurde bereits angesprochen – ist ein Konjunktivsport. Wenn die Mannschaft in Rot und Weiß also so weitermacht wie bisher, wenn sie in der Rückrunde nicht einbricht, wenn sie von größerem Verletzungspech verschont bleibt, wenn sie selten oder gar nicht von bekloppten Schiris betrogen wird und wenn nicht plötzlich einer der Konkurrenten einen Lauf kriegt, dann ist die Saison nach oben offen.

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