[Wahre Geschichte] Nun hat der CDU-Mensch Linnemann die „Vorschulpflicht für alle, die schlecht Deutsch sprechen“ gefordert und dabei mit falschen Zahlen argumentiert. Denn der Anteil der Kinder, die nicht oder nur schlecht Deutsch sprechen und eingeschult werden sollen, sei zu hoch. Darüber ist zu diskutieren. Nicht aber darüber, dass es sich um ein sehr altes Problem an deutschen Volks- und Grundschulen handelt. Der Düsseldorfer Schuster Jakob Voscht (geboren um 1890 herum) wusste zu berichten, dass er bei der Einschulung in die Volksschule auf der Citadellstraße weder in der Lage war Hochdeutsch zu sprechen, noch es richtig zu verstehen. Das „Fräulein“ (Lehrerinnen durften zwischen 1880 und 1957 nicht verheiratet sein.) stammte aus gutbürgerlichen Kreisen, und zwar aus Preußen – und hat also Verständigungsprobleme.

LESEBETEILIGUNG: 12,88 EURO FÜR TD
Ihnen gefällt, was The Düsseldorfer über unsere schöne Stadt schreibt? Und vielleicht auch die Artikel zu anderen Themen? Sie möchten unsere Arbeit unterstützen? Nichts leichter als das! Kaufen Sie eine Lesebeteiligung in unserem Shop – zum Beispiel in Form der Düsseldorf-Lesebeteiligung in Höhe von 12,88 Euro – und zeigen Sie damit, dass The Düsseldorfer Ihnen etwas wert ist.

Denn, so Herr Voscht, gut drei Viertel der Schüler*innen ging es wie ihm. Die Lehrerin wusste sich nicht anders zu helfen und prügelte den Kinder, die nur das Düsseldorfer Platt beherrschten, die hochdeutsche Sprache regelrecht ein. Dafür habe sie, so der Schuster weiter, etwas mehr als ein halbes Schuljahr gebraucht. Erst dann habe der reguläre Unterricht im Lesen und Schreiben beginnen können. Tatsächlich gab um die Jahrhundertwende zwischen dem 19. und dem 20. Jahrhundert kaum einheimische Lehrer an den Schulen der rheinischen Großstädte; ob es Methode hatte, die Mundart-Pänz mit sstockssteif Hochdeutsch parlierenden Fräuleins und Magistern zu konfrontieren, ist nicht bekannt.

Jakob Voscht war ein Freund unserer Familie. Nachdem er und seine Frau samt Tochter ausgebombt worden waren, kamen sie in einer Behelfsunterkunft unter. Die lag in Lörick und war Teil eines ehemaligen Bauernhofes. Man hatte die Pferdeställe 1945 zu Notunterkünften umgebaut. Zufällig landeten mein Vater, meine Mutter, meine Oma und mein damals knapp ein Jahr alter Bruder nach dem Umzug nach Düsseldorf genau dort. So traf man sich. Da war Herr Voscht offiziell schon Rentner – so richtig lernte ich ihn natürlich erst kennen als ich etwa sechs, sieben Jahre alt war. Man hatte die Voschts in einem Neubau auf der Corneliusstraße gleich um die Ecke der Kirchfeldstraße einquartiert. Weil er einfach nicht aufhören konnte zu arbeiten, half Herr Voscht in der kleinen Schuhmacherwerkstatt nebenan aus. Als der Inhaber aus Altersgründen schloss, suchte er sich einen neuen Job – mit weit über 70 Jahren. Dolf Selfbach, der Besitzer der legendären Herrenboutique an der Ecke Berliner Allee zur Bahnstraße, stellt ihn als Faktotum ein, und ich traf Herrn Voscht bis in die frühen Siebzigerjahre hinein bei seinen Botengängen für den Chef.

Während der drei Jahre, in denen ich die Volksschule auf der Kirchfeldstraße besuchte (meine Lehrerin war auch ein „Fräulein“ und hieß Christa Krämer), ging ich nach Schulschluss gern und oft in die Werkstatt, um Herrn Voscht einen Besuch abzustatten. Nicht selten nahm er mich dann mit zum Mittagessen, das seine Frau (ich glaube, sie hieß Elisabeth und er nannte sie Liss) pünktlich um eins auf den Tisch stellte. Beide unterhielten sich grundsätzlich in der Düsseldorfer Mundart, und Herr Voscht sprach das Hochdeutsch mit ganz erheblichem Akzent – übrigens nicht, wie man vermuten sollte, mit einem irgendwie rheinischen Einschlag, sondern in diesem typisch bergischen Tonfall, den ächte Düsseldorfer draufhaben. An eine seiner vielen Anekdoten, die er „Jeschechte“ nannte, erinnere ich mich besonders gern (und ich versuch hier, seine Sprech- und Ausdrucksweise teilweise nachzuahmen): „Weeste, dat isch eijentlich ja nich Voscht heeß?“

Tatsächlich, so seine Erzählung, sei sein Vater beim Melden des neugeborenen Sohnes auf dem preußischen Standesamt sturzbesoffen gewesen. Der Pfarrer in „dä Kerch“, dem hätte er seinen Nachnamen gar nicht nennen müssen, der kannte seine Schäfchen. Aber der preußische Beamte, der immer alles ganz, ganz genau und nach Vorschrift nahm, fragte: „Name??!“ Und Jakob Voschts Vater sagte wahrheitsgemäß „Jakob“. „Nein,“ wird der Beamte gebellt habe, „der Nachname!“ Und weil der Vater zur Feier der Geburt seines Stammhalters mit seinen Kameraden ordentlich einen gehoben hatte, kam der Name Vogt ein bisschen genuschelt heraus und wurde vom humorlosen Stuhlkissenfurzer phonetisch richtig als „Voscht“ eingetragen. Und weil die Preußen in der Rheinprovinz begonnen hatten, Personenregister anzulegen, wurde die Familie mit dem genuschelten Namen verewigt.

Nach allem, was ich weiß – denn der Kontakt ging leider irgendwann verloren – wurde Jakob Voscht mit etwa 85 Jahren Witwer, starb aber wohl erst mehr als zehn Jahre später mit weit über 90 Jahren. Ich bin sicher, seine Düsseldorfer Mundart hat er sich mit zu seinem letzten Lebenstag bewahrt.

Kommentare sind gesperrt.