Es wird der 17. Juni 1965 gewesen sein, der „Tag der deutschen Einheit“, ein Donnerstag wie dieses Jahr. Mein Schulfreund Lutz und ich reihten uns auf der Breite Straße in eine geordnete Menschenmenge ein. Die Erwachsenen trugen Fackeln, wir hatten Sammelbüchsen und einen Vorrat an Anstecknadeln mit dem Brandenburger Tor dabei, denn wir waren Demonstranten im Auftrag des „Kuratoriums Unteilbares Deutschland„. Das hatte ein breites Bündnis von Vertretern der CDU/CSU, der SPD und der FDP bereits 1954 gegründet – Sinn der Organisation war es „den Gedanken an die Deutsche Einheit“ wachzuhalten. Das war nicht nur aus Sicht der DDR eine durchaus revanchistische Idee, die längst nicht bei allen Bundesdeutschen auf Begeisterung stieß.

Aufruf zum Bundestreffen der Ostpreußen in Düsseldorf

Aufruf zum Bundestreffen der Ostpreußen in Düsseldorf

Tatsächlich war die Gründung des obskuren Kuratoriums anfangs vor allem eine Initiative der großen Parteien gegen die aufkommende Interessenvertretung der „Heimatvertriebenen„. Die hatten selbst mehrere Parteien gegründet und um 1950 herum in den Ländern teils bedeutende Stimmzahlen geholt. Überhaupt betrachteten CDU/CSU und auch SPD die Menschen, die vor den Sowjettruppen aus dem Osten Deutschlands geflohen waren, als wichtige Zielgruppe. Bei den großen Versammlungen der „Landsmannschaften“ waren bekannte Politiker immer anwesend und führten gern revanchistische Reden. Denn viele der Vertriebenenorganisationen verfolgten mehr oder weniger offen den Anschluss der jeweiligen „alten Heimat“ an ein vereintes Deutschland.

Die mächtigen Vertriebenenverbände

Das Plakat mit der revanchistischen Parole "3 geteilt? Niemals!"

Das Plakat mit der revanchistischen Parole „3 geteilt? Niemals!“

Welche Dimensionen diese Vertriebenenlobby hatte, mag man daran ermessen, dass am Bundestreffen der Ostpreußen am 9./10. Juli 1960 im Rheinstadion mehr als 200.000 Menschen teilnahmen. Gerade die „Landsmannschaften“ deren Heimat östlich der Grenzen der DDR lag, waren besonders revanchistisch, was das Kuratorium Unteilbares Deutschland Ende der Fünfzigerjahre mit dem Slogan „3 geteilt? Niemals!“ aufgriff. Wie wir heute wissen, verschwand die Idee der „Rückeroberung“ der sogenannten „deutschen Ostgebiete“ erst im Zuge der Ostpolitik von Willy Brandt und der Aussöhnung mit den östlichen Nachbarn.

Die berühmte Anstecknadel mit dem Brandenburger Tor

Die berühmte Anstecknadel mit dem Brandenburger Tor

Das war uns als minderjährige Mitläufer des Fackelzugs im Juni 1965 natürlich nicht bewusst. Zumal wir auch nicht ganz freiwillig an der Demonstration teilnahmen, denn die Organisatoren hatten Schüler mit Vergünstigungen geködert – leider weiß ich nicht mehr, welcher Art diese Vorteile waren. Nein, vom Sammelerlös durften wir keinen Anteil behalten. Und wir sammelten auch nicht nur während dieser Demo, sondern immer und überall; besonders gern im Kreise der Verwandtschaft. Die bewusste Anstecknadel mit dem silbernen Brandenburger Tor hatte damals praktisch jeder Erwachsene am Revers.

Kuratorium Unteilbares Deutschland – prima Marketing

Gründungsurkunde des Kuratoriums Unteilbares Deutschland

Gründungsurkunde des Kuratoriums Unteilbares Deutschland

Ja, vom Marketing verstanden die Leute vom Kuratorium Unteilbares Deutschland wirklich etwas. Nach dem Bau der Mauer in Berlin und dem Ausbau der Zonengrenze mit Todesstreifen ab dem August 1963 hatte die Organisation das Thema „Wiedervereinigung“ in den Vordergrund gestellt; auch weil die Identifikation der ehemaligen „Vertriebenen“ mit ihren Verbänden dramatisch abgenommen hatte. Noch um die Wende zwischen der Fünfziger- und Sechzigerjahre war es ein Dauerthema bei Familienfeiern: „Ach, wie gern würde ich noch einmal die Heimat sehen!“ war ein oft gehörter Seufzer, besonders bei den Ostpreußen und den Schlesiern bzw. Oberschlesiern. Mein Vater, der politisch eher links stand und mit dem sentimentalen Heimatgequatsche wenig anfangen konnte, sagte dann gern: „Und, würdest du dahin ziehen, wenn du könntest?“ Und schon war eine heftige Diskussion über die bösen Kommunisten und die guten Amerikaner im Gange.

Der allgegenwärtige Stacheldraht...

Der allgegenwärtige Stacheldraht…

Es gab noch mehr Merchandising der Marke „Unteilbares Deutschland“. Zu Weihnachten 1963 oder 1964 hatte das Kuratorium ein Initiative gestartet, die u.a. unter dem Slogan „Wir bleiben zusammen“ betrieben wurde. Die deutschen Familien wurden aufgefordert, zum Gedenken an die armen Landsleute in der Zone und dahinter über Weihnachten Kerzen ins Fenster zu stellen. Wer es stilecht tun wollte, konnte für kleines Geld die Nachbildung der Berliner Freiheitsglocke als Kerzenhalter erwerben. Auch die Tradition der Päckchen in die Ostzone war auf dem Mist des Kuratoriums gewachsen.

Wie man sieht, war die Arbeit des Kuratoriums Unteilbares Deutschland erfolgreich. Denn ohne deren Lobbyarbeit und Propaganda wäre die Idee der Widervereinigung möglicherweise versandet und mit dem Sterben der alten Leute mit gestorben. So aber war der Stacheldraht, der die Teilung symbolisierte, allgegenwärtig. Und auch der Sonderstatus von Berlin, das von den Mächten des Westblocks zum Symbol für die Freiheit im Kapitalismus stilisiert wurde, hätte sich allmählich abgeschliffen.

17. Juni 1953: Stalinisten gegen Arbeiter

17. Juni 1953: Sowjetische Panzer gegen protestierende Arbeiter in Ostberlin

17. Juni 1953: Sowjetische Panzer gegen protestierende Arbeiter in Ostberlin

Warum es so wichtig war, das DDR-Regime zu kippen, ließ sich an der Geschichte des 17. Juni 1953 bestens ablesen. Damals hatte die Stalinisten, die in den DDR-Gremien die Oberhand hatten, einen Arbeiteraufstand blutig niederschlagen lassen und damit die hässliche Fratze des angeblichen „Kommunismus“ stalinistischer Auslegung demaskiert. Dabei richtete sich der Aufstand gar nicht gegen den Sozialismus, der ja das Staatssystem der Deutschen Demokratischen Republik werden sollte, sondern gegen die hartleibigen Funktionäre, denen die miesen Lebensumstände des Proletariats schnurz waren und die jegliche Bemühungen um wirkliche Mitbestimmung durch die Arbeiter überall und jederzeit unterdrückten.

Warum aber ausgerechnet der Tag der Arbeitsaufstände in der DDR zum „Tag der deutschen Einheit“ erklärt wurde, habe ich persönlich nie verstanden. Wir haben aber auch nicht sonderlich intensiv darüber nachgedacht, denn solch ein freier Tag mitten im späten Frühling war einfach etwas Schönes – kein Vergleich mit einem 3. Oktober. Übrigens: Die entsprechenden Gesetze rund um den Nationalfeiertag unterscheiden sich tatsächlich in einem winzigen Detail. Während früher das „d“ in „deutschen“ kleingeschrieben wurde, heißt der 3. Oktober offiziell „Tag der Deutschen Einheit“ mit einem großen „D“.

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