[Lesestück] Als Schüler in den Sechzigerjahren hatte man viele Möglichkeiten, in den Schulferien Geld zu verdienen. Zwischen 1968 und dem Beginn des Studiums an der Kunstakademie hatte ich tolle Ferienjobs: bei einem Schreiner, im Drahtlager der Klöcknerwerke, als Laufbursche bei einem obskuren Import-/Export-Laden, als Nachtwächter in der alten Messe und sogar beim Friedhofsgärtner. Schwieriger war es schon, eine regelmäßige, dauerhafte Tätigkeit für nachmittags zu bekommen, um das Taschengeld aufzubessern. Und obwohl es wirklich nicht viel zu verdienen gab – dazu später mehr – trug ich zwischen 1969 und 1972 Zeitschriften aus dem Heinrich-Bauer-Verlag im Zooviertel aus. Die Runde war spannend, und es gab bei einigen Abonnenten sogar gutes Trinkgeld.

TV Hören + Sehen anno 1969

TV Hören + Sehen anno 1969

An die wichtigsten und beliebtesten Hefte erinnere ich mich noch genau. Gut ein Drittel des Volumens machte die Fernsehzeitschrift TV Hören + Sehen aus, ebenfalls beliebt die klassische Illustrierte Neue Revue. Für die Damen gab’s die Neue Mode mit Schnittmustern und Strickanleitungen. Zwei, drei Vertreter der Gattung „Yellow Press“ waren dabei, ein Rätselheft und die Praline, die gerade zur Softporno-Postille umgearbeitet worden war. Natürlich musste ich den Inhalt der Ware stichprobenartig testen, besonders die anstößigen Sachen in der Praline und auch in der Neuen Revue, die damals auch sehr gern Sexthemen bearbeitete. Allerdings waren die Fotos in beiden Heften nicht wirklich an- bzw. erregend.

Das System

Im Büro des Dienstleisters, der für die Verteilung zuständig war, bekam man Kärtchen – für jeden Abonnenten eine. Darauf war neben Name und Adresse angegeben, welche Zeitschriften sie bekam. Jeweils für die Wochen eines Quartals gab es eine Spalte, die ich auszufüllen hatte. Hatte ich den Bezieher angetroffen und das Geld für die Woche kassiert, machte ich ein Kreuz. War ich die Zeitschrift nicht losgeworden, kringelte ich die Wochennummer ein.

1973 arbeiteten noch Dampfloks auf dem Derendorfer Rangierbahnhof (Foto: Rupprecht von Gersdorff)

1973 arbeiteten noch Dampfloks auf dem Derendorfer Rangierbahnhof (Foto: Rupprecht von Gersdorff)

Donnerstags brachte eine Spedition die in Folie eingeschweißten Pakete mit den Zeitschriften. Man warf die in den Hausflur und klingelte, und ich musste rasch nach unten sausen, damit die wertvollen Magazine nicht geklaut wurden (was aber zwei-, dreimal doch geschah). Einmal im Monat musste ich zum Rapport und zur Abrechnung im Büro – zuerst auf der Grabenstraße in der Altstadt, später auf der Geistenstraße in Derendorf – antanzen. War die Zahl der Remittenden zu groß, wurde ich vom zuständigen Sachbearbeiter angebrüllt. Ab einer bestimmten Quote gab es Abzug bei meiner Provision. Apropos: Schaffte ich es, einer existierenden Abonnentin (mehr als drei Viertel meiner Kundschaft waren Damen…) eine weitere Zeitschrift anzudrehen oder ihr Abo vorzeitig zu verlängern, bekam ich eine lohnenswerte Provision in Höhe des Preise für den Bezug eines Monats.

Geringer Verdienst

Noch nicht sehr schmuddelig - Die Praline von 1970

Noch nicht sehr schmuddelig – Die Praline von 1970

Ansonsten ging es um Pfennigbeträge. Die Neue Mode war am teuersten und brachte mir pro zugestelltem Exemplar immerhin 32 Pfennig. Bei den anderen lag das Honorar zwischen 9 und 14 Pfennig, im Schnitt bei ziemlich genau 20 Pfennig. Weil ich insgesamt immer zwischen 90 und 120 Zeitschriften zuzustellen hatte, verdiente ich pro Woche so ungefähr 20 Mark. Trinkgeld bekam ich vor allem von den älteren, wohlhabenden Damen – oft fünfzig Pfennig, seltener eine Mark – und bei meinen Lieblingskunden: dem Hotel an der Lindemannstraße und dem Bordell in der Rethelstraße 77. Dort wurde ich von der Wirtschafterin empfangen und in die Küche geführt, wo sie mir je nach Jahreszeit eine Cola oder einen Kakao sowie Kekse anbot. Manchmal lümmelten drei, vier der Mädchen in der Pause dort herum. Der Puff bekam nicht nur das volle Programm an Zeitschriften, sondern gleich mehrere Exemplare einiger Titel. Zudem ließen sich einige Nutten die von ihnen abonnierten Hefte in die Rethelstraße bringen.

Die Tour war nicht an einem Nachmittag zu schaffen. Einerseits, weil ich nicht alle Hefte auf einmal transportieren konnte (der Hackenporsche war noch nicht erfunden, und darauf, einen Handkarren hinter mir her zu ziehen hatte ich keine Lust), andererseits, weil eine komplette Runde leicht drei, vier Stunden gedauert hätte. Gegen Ende meiner Tätigkeit habe ich einmal die Zeiten gestoppt, die ich zum Zustellen bei einer Bezieherin brauchte: Der Durchschnitt lag bei sage-und-schreibe sechs Minuten! In der Spitze waren es 60 Kunden, die ich zu betreuen hatte, und die Zeiten für die Wege von Haus zu Haus kamen ja noch hinzu. Transportiert habe ich die Zeitschriften in zwei Aktentaschen, die ich auf dem Gepäckträger meines Fahrrads unterbrachte.

Die Touren

Google-Map: Mein Zustellgebiet 1969

Google-Map: Mein Zustellgebiet 1969

Das musste ich natürlich schieben und bei jeder Station nicht nur anschließen, sondern auch die Mappen herunternehmen und im jeweiligen Hausflur deponieren. Wir wohnten damals auf der Lennéstraße an der Ecke zur Tussmannstraße. Also schob ich das Rad bergan zur alten Zoobrücke, die über die Gleise des Rangierbahnhofs Derendorf und die Schienen von S-Bahn und Fernverkehr führte. Es handelte sich um eine nach dem Krieg schnell errichtete Überführung mit je einer Fahrbahn in jeder Richtung und den Straßenbahnschienen der Linie 6 in der Mitte. Die eine Runde begann dann an der Ecke der Rethelstraße zur Achenbachstraße. Auf dieser Straße bis zum Brehmplatz gab es in jedem zweiten Haus eine Kundin. Dann musste ich einen Abstecher zum Hochhaus am Zoopark machen. Weiter ging’s die Lindemannstraße bis zur Goethestraße und dann quer durchs Viertel bis zum Schillerplatz. Später ging ich diese Tour in umgekehrter Reihenfolge, weil ich so Gelegenheit hatte, einen Teil des verdienten Geldes auf der Rethelstraße auszugeben.

Sex sells - Neue Revue im Jahr 1970

Sex sells – Neue Revue im Jahr 1970

Die andere Runde begann am Puff in der Nummer 77 und führte dann die Rethelstraße runter bis zur Grafenberger Allee. Im Viertel wischen diesen Straßen und der Lindemannstraße gab es eine Reihe Abonnenten in den kleinen Straßen – alle ziemlich verstreut, sodass viel Zeit für die Wege draufging. Hier zählten auch ein Zahnarzt an der Ecke zur Uhlandstraße, ein Frisör auf derselben Straße sowie drei, vier Büros und Kanzleien zu meinen Kunden – Trinkgeld bekam ich da nie. Angefreundet hatte ich mich mit der Inhaberin des kleinen Hotels neben der Goetheapotheke, das es schon lange nicht mehr gibt. Die fragte mich immer, wie es mir ginge, was die Schule so mache und wie es mit der Freizeit bestellt war. Wenn mir danach war, konnte ich auch um einen Kaffee oder eine Limo bitten, die ich auch bekam.

Arme Frauen

Neue Mode, die Zeitschrift für die alleinstehende Dame (hier von 1975)

Neue Mode, die Zeitschrift für die alleinstehende Dame (hier von 1975)

Es gab eine ganze Reihe alter, alleinstehender Frauen, denen es finanziell nicht so gut ging und denen gewissenlose Vertreter die Zeitschriften aufgeschwatzt hatten. Manche von denen öffneten oft gar nicht, wenn ich klingelte, oder hatten gerade kein Geld im Haus. Meistens stundete ich den Betrag und bekam dann das Geld für den ganzen Monat, wenn die Rente eingetroffen war. Bei einigen schellte ich irgendwann gar nicht mehr, weil sie mir so leidtaten, und vermerkte durchgehend, sie nicht angetroffen zu haben. Eine Dame mittleren Alters, eine wirklich attraktive Frau, die im Hochhaus am Zoo wohnte, begann irgendwann, mir Avancen zu machen und empfing mich auch schon einmal im wehenden Bademantel mit wenig darunter – sie war Neue-Mode-Abonnentin. Die meisten Bezieherinnen waren kurz angebunden oder sogar unfreundlich – vermutlich, weil sie das vermaledeite Abo gar nicht mehr haben wollten.

Auf der Rethelstraße, gleich in der Kurve und gegenüber vom Früchtehaus Zoo, führte eine sehr aparte Frau, die sicher an die Sechzig war, einen Schreibwarenladen, der auch Geschenkartikel führte. Vor allem aber: Bei ihr konnte man Schallplatten kaufen! Und ihr Sortiment, von ihr persönlich handverlesen, konnte sich sehen lassen. Keine Ahnung, wie und warum sie sich für Rockmusik jener Jahre interessierte. Sie war so fit im Thema, dass man sich von ihr ernsthaft beraten lassen konnte. Ab dem zweiten Jahr kehrte ich praktisch jede Woche bei ihr ein und kaufte auch beinahe jedes Mal eine LP. Damit war dann ein Großteil meines Verdienstes futsch. Nebenan war eine Hussel-Filiale, also die der Süßwarenkette, die überall in der Stadt Läden hatte. Nun war und bin ich kein großer Süßigkeitsfan, aber dort gab es schon ab Oktober und bis weit in den Januar hinein Spitzkuchen, die ich sehr liebe – auch dort ließ ich viel von meinen Einnahmen. Und am Ende kaufte ich mir immer eine Schachtel Zigaretten im Tabakladen an der Ecke zur Ahnfeldstraße.

Das Ende

Dieser unangenehme und bösartige Sachbearbeiter des Vertriebs wurde immer unangenehmer und bösartiger. Irgendwann ließ er uns zu mehreren kommen und machten jeweils einen aus der Truppe vor versammelter Mannschaft fertig; eigentlich kräftige Jungs um die siebzehn, achtzehn Jahre brachte er zum Weinen. So weit wollte ich es nicht kommen lassen. An einem verregneten Frühlingstag sagte ich ihm, dass ich keine Lust mehr auf den Job habe. Er brüllte mich an, was mi einfiele, beleidigte mich handfest und stand sogar auf, als wolle er mir eine scheuern. Da nahm ich die bewussten Kärtchen und warf sie in die Luft, und das eingesammelte Geld gleich hinterher. Der Typ kroch auf dem Boden des Büros herum, und ich machte mich auf Nimmerwiedersehen davon.

Ein Kommentar

  1. Mike Seifert am

    Hallo, Rainer Bartel: Klasse!
    Wenngleich in einem anderen Zeitraum und in einer anderen Stadt, aber das deckt sich im Großen und Ganzen mit meinen eigenen Erfahrungen. Ich würde mich gerne bezüglich einiger Details mit dir darüber austauschen.

    Greetz