Der junge Mann zeigte im Rausgehen auf ein Foto vom eben gesehenen Stück im Foyer und sagte: „Da hat aber ein Mephisto gefehlt.“ Und er hatte recht. In der ungewöhnlichen Inszenierung von Goethes Faust von Georg Schmiedleitner kriegt es olle Heinrich Faust nicht nur mit einem Teufel zu tun, sondern gleich vieren – zwei Kerlen, zwei Weibern. Und einer der männlichen Mephistofeles fehlte bei der Aufführung am 24.05. im großen Saal im Central. Da dachte Ihr sehr ergebener Berichterstatter so für sich: Ja, genau das ist Theater. Da zappeln lebende Puppen vor lebenden Zuschauern, man kann die Schauspieler sehen, im Grunde sogar berühren und manchmal auch riechen. Und die Darsteller müssen sich LIVE und vor lebendem Publikum komplett entäußern. Was für ein Wahnsinn! Wie banal sind dagegen Film und Fernsehen! Und weil jede Aufführung einer Inszenierung ein Unikat ist, kann es aber auch mal passieren, dass ein Schauspieler unpässlich ist und man improvisiert. Am Ende merkte man der Truppe die Erleichterung an; sie feixten sich zu und hatten Spaß daran, dass alles gut gegangen war.

Schwieriges Publikum

Dabei standen die Zeichen angesichts der spezifischen Zusammensetzung des Publikums an diesem Abend im ehemaligen Paketpostamt nicht so gut. Rund 80 Prozent der Zuschauer waren Schüler. Von denen hatten gefühlte Dreiviertel NULL Theatererfahrung und reagierten entsprechend – so zwischen Konzert und Kino. Da zog der jugendliche Nachbar seine Toffifee-Packung knisternd aus dem Rucksack und riss eine Dose Zuckerwasser auf, um sich zu stärken. Zwei junge Damen eine Reihe dahinter plauderten ununterbrochen im Flüsterton, und wenn was zu verstehen war, dann ging das im üblichen „Er so“-„Ich so“-Rhythmus. Gerade bei den Testosteronopfern lag die Aufmerksamkeitsschwelle deutlich unterhalb der 15-Minuten-Grenze, und die Bewunderung Ihres Ergebenen gehört all den jungen Menschen im Saal, die knapp Eindreiviertel Stunden geduldig und interessiert verfolgten. Als der eine Mephisto seinen schwabbeligen Bauch freilegten, kicherten die Buben, als sich Gretchen leicht bekleidet im Dreck wälzte, giggelten die Mädchen.

Draußen vorm Central - dem Provisorium des Schauspielhauses

Draußen vorm Central – dem Provisorium des Schauspielhauses

Aber auch das ist eben Theater – die Zuschauer sind live da und leben ihr Leben. Wer erwartet, dass alle still und ergriffen dem großen Schauspiel lauschen, mag sich getrost dem Bildungsbürgertum zurechnen. Wobei die wenigen Vertreter dieser Gruppe die wirklich spannende und übrigens extrem schnelle Version des ersten Teils der Wissens-Tragödie mit großer Offenheit, deutlichem Interesse und am Ende auch reichlich Applaus honorierten. Der Erfolg der Aufführung an diesem schwierigen Abend gehört dem inszenierenden Regisseur, dem Erschaffer des genial einfachen Bühnenbilds und vor allem den extrem engagierten Schauspielern. Stefan Hunstein als Faust ließ alle Gefühle und Zweifel raus, die den Allround-Forscher quälen. Die drei Teufelchen zeigten alle Facetten des Mephistos – vom Frust des gefallenen Engels über die unbedingte Bosheit bis zur entfesselten Sexualität. Und Katharina Lütten ist ein Gretchen wie es selten eins gab. Wie ein kleines Mädchen erscheint sie anfangs, die Arme herabhängend, halb vor dem Körper, mit den Augen verfolgend, was um sie herum passiert, kleine Geräusche des Erstaunens und der milden Angst machend. Später dann die unersättlich Liebende, die dem Faust verfallene, eine Lulu, eine Lolita.

Gegenüber dem klassischen „Faust I“ fehlen vor allem Zueignung und Prolog sowie Auerbachs Keller. Manche Szene sind erheblich verkürzt oder werden nur angespielt. Aber das fällt nur demjenigen auf, der das Reclam-Bändchen dabei hat oder das Stück auswendig kann. Natürlich ist es für junge Menschen, die mit dem klassischen Theater bisher nichts zu tun hatten, ungeheuer schwer, der alten Sprache zu folgen, also überhaupt zu verstehen, was die Figuren sagen. Aber diese mögliche Verständigungsschwierigkeit überbrückt diese Inszenierung durch das Spiel der Darsteller, durch musikalische Untermalung und vor allem durch das Bühnenbild. Das stellt einen Betonkerker mit großen Oberlichtern dar, der auch als Studierzimmer und Garten durchgeht. Die Figuren erscheinen durch Klappen und Tore, und ein Haufen Endlospapier aus dem Computerdrucker, der über weite Strecken Menschheitswissen auf die Seiten nagelt, beherrscht die Szene.

Die Liebe zum Theater

Wenn Ihr Ergebener eins in seinem Leben bereut, dann dass er nicht zum Theater gegangen ist. Nein, nicht als Schauspieler. Eher als Autor, als Regisseur oder Dramaturg oder auch einfach als Inspizient oder Bühnenarbeiter. Als Schüler zufällig Helferlein beim Kom(m)ödchen geworden und auch beim Theater an der Kö und anderswo, befreundet mit Jörg, der Bühnenbildner wurde, hat ihn das Gezappel der lebenden Puppen immer fasziniert. Ja, im Theater während einer Aufführung ist Ihr Ergebener auf naive Weise willenlos und ganz gefangen vom Spiel. So kam er später zum freien Theater und genoss es, kleiner Teil dieser Apparate aus Menschen, Worten und Bühnen zu sein. Weil Theater für ihn aber immer nur intensiv geht, hat der Berichterstatter lange vermieden, Stücke zu besuchen. Das wird sich jetzt ändern – der Knoten ist geplatzt.

Wobei die schiere Größe des Apparats, den ein solches subventioniertes Haus betreibt, erschreckend ist. Da liegen dicke Stapel eines fetten Jahresbandes zur abgelaufenen Spielzeit zum kostenlosen Mitnehmen herum, der in Herstellung und Drucker sicher so viel Geld verschlungen hat, wie eine freie Theatergruppe für zwei, drei Spielzeiten bräuchte. Da ist technisch alles vom Feinsten, und die Zahl der Mitarbeiter hinter der Bühne ist enorm. Gleichzeitig wird aber von den Intendanten und den Schauspiel-Lobbyisten eigentlich immer gejammert. Besonders gejammert wird derzeit angesichts der Tatsache, dass das Schauspielhaus wegen Renovierung langfristig nicht zur Verfügung stehen wird und man weiter im Provisorium hinterm Bahnhof spielen müsse. Dabei ist das Central mit der kleinen und der großen Bühne ein wunderbarer Spielort, nach dem sich andere Kompanien die Finger ablecken würden. Aber das Subventionstheater ist halt verwöhnt … und das Bildungsbürgertum auch.

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