Natürlich suchte man sich einen Ferienjob, und es gab davon reichlich. Im Grunde konnten wir es uns in jenen Jahren aussuchen, welche Art Arbeit wir bei wem und für welchen Lohn annahmen. So konnte man als Schüleraushilfe in ganz andere Welten hineinschnuppern. Dass ich als jemand, dessen handwerkliches Geschick gegen null geht, in diesem verrückten Sommer 1969 ausgerechnet beim Tischlermeister Alfred Zerdick auf der Weseler Straße 41 landete, war kein Zufall. Klassenkamerad Uwe Koecheln hatte nämlich schon im Herbst zuvor eine gewisse Margot in der Tanzschule kennengelernt, und die war die Tochter des besagten Tischlermeisters.

Wenn ich von einem Tischlermeister schreibe, muss ich hinzufügen, dass die Werkstatt Zerdick auf beiden Gebieten des holzverarbeitenden Handwerks tätig war, also nicht nur Möbel baute, sondern auch Fenster, und zudem auch als Bauschreiner aktiv war. Durch die Toreinfahrt ging’s in einen relativ engen Hof, und die recht große Werkstatt befand sich im Hintergebäude. Soweit ich mich erinnere stammte der Meister aus Ostpreußen und war ein für damalige Zeiten ausgesprochen aufgeschlossener Mensch. Anders lässt es sich nicht erklären, dass wir in dieser Werkstatt unsere Silvesterparty zum Jahreswechsel 1968/69 feiern durften.

Vermutlich hatte Margots Bruder, dessen Name ich leider vergessen habe, am Zustandekommen einen nicht geringen Anteil – denn der war cool. Während wir zwischen 15 und 18 Jahre alt waren, dürfte der Bruder schon Mitte Zwanzig gewesen sein. „Cool“ sagte man damals nicht, sondern „Der ist in Ordnung“. Zumal er nicht nur ein Herz für uns Pubertierende hatte, sondern auch dieselbe Musik mochte wie wir. Sein absoluter Lieblingssong in der Zeit war „Eve of Destruction“ von Barry McGuire. Während die Familie Zerdick das Erdgeschoss im Haus bewohnte, hatte der Bruder ein paar Etage darüber eine eigene kleine Wohnung, wo wir uns nicht selten aufhielten.

Überhaupt: Auch Meister Zerdick war cool und fuhr einen Volvo. Ich vermute, dass meine Vorliebe für diese Automarke damals durch ihn geprägt wurde. Als wir mit den Zerdicks in Berührung kamen, war es eine beige Amazon, später dann ein irgendwie türkisblauer 144. Er konnte gar nicht aufhören, von diesem Pkw zu schwärmen, vor allem von der Sicherheit. „Schwedenstahl,“ sagte er, „der ist ganz aus Schwedenstahl.“ Tatsächlich hatte er mit dem 144er im Frühjahr 1969 einen Unfall. Ein anderer Fahrer hatte ihm die Vorfahrt genommen und war ihm in die Seite gekracht. „In jedem anderen Wage wäre ich tot gewesen oder wenigstens schwer verletzt.“ Ich kannte vorher niemanden mit einem Volvo.

Irgendwie hatte ich mich in Zerdicks verliebt. Ein Hang zu Handwerkern hatte ich ohnehin. Mein Vater in seiner Eigenschaft als Architekt hatte ständig mit Handwerkern aller Art zu tun, und irgendwie waren die alle besonders. Mir kamen Menschen wie der Malermeister Lechleitner oder der Schreibermeister Schnigge immer so gefestigt vor, so selbstbewusst. Bis heute beneide ich es, wenn Menschen ein Handwerk beherrschen. Ich selbst bin schon im Werkunterricht regelmäßig an den einfachsten Basteleien gescheitert. Jedenfalls fragte ich eines Tages, ob ich nicht in den Sommerferien aushelfen könne. Meister Zerdick sagte zu. Wenn ich mich nicht täusche, lag mein Stundenlohn bei sechs Mark, außerdem gab’s kostenlos Mittagessen.

Falls nicht irgendwer draußen auf einer Baustelle war, fanden sich Familie und Mitarbeiter gegen halb eins in der großen Küche der Zerdicks zusammen. Man hatte sich den Staub abgewaschen und fügte sich in die Sitzordnung ein. Die richtigen Arbeiter sprachen über die Projekte, und natürlich war auch das, was in der Zeitung stand, Thema der Runde. Es gab ordentliche Hausmannskost und Milch oder Limonade als Getränk. Alkohol war während der Arbeit verboten und Cola kam nicht auf den Tisch.

Natürlich merkten Meister Zerdick, sein Sohn und die beiden Gesellen rasch, dass man mich für anspruchsvollere Arbeiten nicht gebrauchen konnte, also wurde ich vorwiegend zum Spänefegen und Aufräumen der Werkbänke und Maschinen eingeteilt. Im Hof lagerte der Rumpf eines Holzsegelboot, und eines Tages meinte der Meister, ich könne das Schiff noch mit Xylamon wetterfest machen. Also verbrachte ich einige Tage damit, das Holz anzuschleifen, zu entstauben und dann mit dem Holzschutz einzupinseln. Immerhin war ich bei dieser Tätigkeit draußen, denn die Sommertage waren heiß und in der Werkstatt entsprechend warm.

Einige Male nahmen sie mich auch mit auf Baustellen. Ich erinnere mich an ein Haus im Osten von Ratingen, das mit neuen Holzfenstern ausgestattet werden sollte. Da wurde weniger Handwerkskunst gebraucht, als vielmehr körperliche Kondition, denn die schweren Rahmen musste bis zum Lastenaufzug hinter dem Haus getragen werden. Es war ein Helfer dabei, der sonst nicht für Zerdick arbeitete, ein unangenehmer Typ, der unentwegt Blödsinn redete. Als er in der Pause die Bild-Zeitung auseinanderfaltete, sagte Sohn Zerdick: „Jetzt wird mir klar, warum du ununterbrochen Quatsch erzählst.“ Am zweiten Tag in Ratingen-Ost stellte Meister Zerdick fest, dass man einen Einbauplan in der Werkstatt vergessen hatte. Weil die richtigen Arbeiter alle unentbehrlich waren, wurde ich mit der S-Bahn losgeschickt, um die Zeichnung zu holen.

Es war ein gutes Gefühl, abends nachhause zu kommen und zu wissen und zu spüren, was ich den ganzen Tag getan hatte. Ich fühlte mich als Teil der arbeitenden Bevölkerung, und das tat gut. In meine Wochen beim Tischlermeister Zerdick fiel auch der ominöse 21. Juli 1969. In der Nacht vom Montag auf den Dienstag saßen wir alle vor den Fernsehern und schauten auf das Unvorstellbare: Eine Kapsel landete auf dem Mond, und gegen 4 Uhr betrat der erste Mensch den Trabanten. Am nächsten Morgen fanden sich alle pünktlich in der Werkstatt ein, alle mit zu wenig Schlaf, und die Mondlandung war das Thema des Tages.

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