Die Legende besagt, dass die Fernsehmacher der ARD Mitte der Fünfzigerjahre einigermaßen verzweifelt nach möglichen Sendungen suchten, mit denen man mehr Bundesbürger dazu bringen konnte, sich einen Fernsehapparat anzuschaffen. Und weil man ahnte, dass besonders Live-Übertragungen die Nation vor die Kiste holen würde, verfiel man 1954 darauf, die Rosenmontagszüge in Köln, Mainz und Düsseldorf zu bringen. Das hatte offensichtlich den gewünschten Effekt, den diese Sendungen wurden rasch überaus populär. Und machten den rheinischen Karneval bundesweit so bekannt, dass er in den Rang von Großereignissen aufrückte. Aber diese Tatsache führte auch dazu, dass sich der Karneval nachhaltig veränderte. Denn plötzlich konnten die jecken Vereinsklüngler von sich sagen: Guck mal, wir sind im Fernsehen.

Das wurde noch wichtiger, als auch große Karnevalssitzungen im TV zu sehen waren – allen voran „Mainz wie es singt und lacht“, eine Sendung, bei der sich jeden Freitag vor dem Rosenmontag die Familien vor der Glotze versammelten, um sich das närrische Treiben reinzuziehen. Weil die Menschen damals aber auch extrem kamerageil waren, entbrannte Session für Session der Streit darüber, wer in der Live-Sendung auftreten durfte. Ähnliches auch bei den Übertragungen der Rosenmontagszüge. Die Vereine und ihre männlichen Anführer kämpften mit harten Bandagen darum, mit ihren Wagen und Gruppen besonders prominent dargestellt zu werden.

Phrasendreschmaschine

Außerdem bildete sich ab etwa Anfang der Siebzigerjahre ein spezifischer Stil der begleitenden Reportagen. Da wurden Tandems gebildet, bestehend aus einem bekannten Fernsehgesicht und einem örtlichen Karnevalspromi – eine Rolle, die zu vergeben eine hochpolitische Angelegenheit war. Gleichzeitig entstand eine Phrasendreschmaschine, die bis heute Bestand hat. Was man bei den Übertragungen des Jahres 2018 prima beobachten konnte. Beispiel gefällig? Da schwärmen die Kommentatoren seit fünfzig Jahren regelmäßig davon, wie viele junge Leute wieder dabei seien und dass der Karneval keine Nachwuchssorgen hätte. Da werden lokale Vereinsgrößen namentlich genannt, wobei deren Vita heruntergebetet und betont wird, wie jeck sie doch schon seit Jahrzehnten seien.

Das alles besonders schlimm beim Kölner Rosenmontagszug, dessen Kommentierung sich auch 2018 wieder anhörte wie vor zehn, zwanzig, dreißig oder vierzig Jahren. Aber auch die Honoratioren auf den Wagen sind scharf darauf, im Fernsehn zu kommen. Erreicht solch ein Wagen den Bereich der Kameras, wird Alaaf und Helau gebrüllt wie blöde, und die Mitfahrer schmeißen Kamellen händeweise unters Volk. Wer aktiv dabei sein darf, fühlt sich schlagartig prominent. Und doch haben die Zuschauer die Namen und Gesichter der leitenden Narren nach wenigen Minuten wieder vergessen.

Rituale, Rituale

Mit dem, was den Karneval der Normalos ausmacht, hat das wenig bis nichts zu tun. Die ganze Veranstaltung ist durch und durch ritualisiert. Und wenn die Kölner Karnevalisten sich das Motto „Aus der Reihe tanzen“ geben, dann agieren sie exakt umgekehrt. Alles bleibt schön in der Reihe, die so schon vor vielen, vielen Jahren festgelegt wurde. In Düsseldorf ist das nur unwesentlich anders, wobei in der Landeshauptstadt die personelle Durchdringung der jecken Führungsschicht mit den anderen gesellschaftlichen Formen der oberen Zehntausend deutlich geringer ist als in Köln. Man kann auch sagen: Der kölsche Klüngel ist erheblich klüngeliger als der düsseldorferische.

Dass alle so sehr nach dem TV schielen, ist aber in den Zeiten von sinkendem Fernsehkonsum und wachsender Nutzung der Streaming-Dienste, also dem langsamen Sterben des linearen Fernsehens nachgerade atavistisch. Im Grunde kräht außerhalb der jeweiligen Klüngel kein Hahn mehr danach, ob und wie toll dieser oder jener Rosenmontagszug auf der Glotze rüberkam. Nur die Karnevalisten, die haben das anscheinend noch nicht gemerkt. Möglicherweise vermuten die jecken Großkopferten, dass sich immer noch die Familien vor der Kiste versammeln, um sich von der närrischen Stümmung anstecken zu lassen – aber Mutti macht schon lange keine Schnittchen mehr oder holt Berliner für die Bagage, die sich das bunte Spektakel anschaut.

Lieber vor Ort dabei sein

Zumindest die Düsseldorfer Bürger haben von dieser drastischen Veränderung der Medien anscheinend Wind gekriegt. Die Zahlen derjenigen, die mit Kind und Kegel an den Zugweg pilgern und in echt und vor Ort ganz kribbelig werden, wenn es heißt „Dä Zoch kütt!“, wachsen seit Jahren beständig – genau wie Menge der Privatpartys in den Wohnungen an den Straßen, durch die sich die närrische Karawane windet. Und wenn dann die Toten Hosen – wie dieses Jahr – live und überraschend mitfahren und ein rollendes Dauerkonzert geben, dann ist der Düsseldorf ganz bei sich im jecken Treiben.

[Alle Bilder der Fotostrecke sind Screenshots aus der Live-Übertragung der ARD vom Düsseldorfer Rosenmontagszug 2018, die letzten drei vom Kölner Zug.]

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