Heute ist das anders, aber in der ersten Hälfte der Siebzigerjahre sagte dir niemand an der Kunstakademie, was du zu tun hattest. Es war nicht einmal möglich, verbindliche Aussagen darüber zu bekommen, welche Vorlesungen und Seminare im Hinblick auf einen Abschluss belegen sollte. Erfahrene Studenten des Lehramts wedelten einem bloß immer mit mahnenden Zeigefingern vor der Nase herum und raunten „Philosophikum“. Historisch kann ich weder einordnen, warum diese Prüfung so hieß, noch ob und welche Sonderrolle sie beim Kunststudium als angehender Lehrer spielte. Jedenfalls, so hieß es, müsse man dafür fit in Philosophie und Pädagogik sein. Also gab es eben auch Angebote in diesen beiden Fächern. Wobei ich – dies ein Geständnis – nur zwei Veranstaltungen der Philosophie besuchte und mit den benötigten „Schein“ bei der zuständigen Professorin Herkenrath erschlich. Das sah dann bei der Pädagogik schon anders aus. Denn gespeist durch den gesamten Diskussionskosmos der Achtundsechzigerbewegung war auch die „Kunstpädagogik“ zum Spielfeld der marxistischen und sonstwie linken Theoretiker geworden. Weil ja die Kunst an sich bürgerlich war, musste da irgendwie das Proletariat rein. Oder wenigstens ein bisschen Antiautoritäres. So wurde ein blassgelbens Bändchen namens „Kritik der Kunstpädagogik“ eines gewissen Herrn Gifhorn zur Teilzeitbibel und Objekt intensiver Exegese … mit der man locker zwei Semester verbringen und zwei Scheine erringen konnte. Zuständig war ein gewisser Herr Blecks als Dozent, der sich sehr links und antiautoritär gab. Redete man dem nach dem Mund, war man beliebt bei ihm. Mich interessierte das Thema wenig bis gar nicht, ich wollte nur irgendwie mit diesem Theoriekram durchkommen.

Denn einerseits verbrachte ich während des Semsters viel Zeit mit dem Malen und in den genannten Kneipen, andererseits jobbte ich in den Ferien und vergaß dann für ein paar Wochen, dass es eine Kunstakademie gab. Immer noch war der soziale Kontakt unter den Studenten der Neumann-Klasse eher schwach ausgeprägt. Allerdings lernte ich im dritten Semester Paul kennen, der bis heute einer meiner allerbesten Freunde ist. Dem ging’s ähnlich. Auch der war eher orientierungslos, wollte ebenfalls Lehrer werden und hatte mit diesem Theoriezeug nichts am Hut. Zu jener Zeit arbeitete er an nicht-gegenständlichen Bildern aus reiner Farbe. Später waren es vor allem große Rupfenbahnen, durch deren Maschen er weiße Wandfarbe drückte, die dann erstarrte und auf der Vorderseite interessante Strukturen ergab. Paul wurde übrigens tatsächlich Kunstlehrer und amtierte rund 30 Jahre lang an einem Düsseldorfer Gymnasium. Selbst Kunst zu machen hat er – im Gegensatz zu mir – nie aufgegeben. Damals unterschieden sich unsere Arbeiten erheblich: Während er mehr an Strukturen interessiert war und auch viele sehr feine, kleine Dinge baute, erfasste ich die Welt mit dem großen bunten Strich.

Korrekturen
Und dann zogen wir das ganz große Akademie-Los. Die üblichen Klassenräume in den unteren drei Stockwerken waren fast durchweg quadratisch mit Wandlängen von vermutlich zwölf Metern, so dass ein Raum eine Fläche von knapp 150 Quadratmetern bot. Je nach Anzahl der Schüler eines Professors und Anzahl der ihm zur Verfügung stehenden Räume sowie der Quote der real an der Akademie arbeiteten Studenten der Klasse fanden bis zu 20 Kunststudenten Platz in einem solchen Raum. Bei Frau Neumann, der nur einen Raum zugeteilt war, liefen im Schnitt meist nur zwölf, dreizehn Leute auf, um in der Klasse tatsächlich künstlerisch zu werkeln. Nicht wenige Kommilitonen sah man eher in den Vorlesungen und Seminaren als im Raum der Klasse Neumann. Und dann waren dann noch etwa zehn Studenten, die nur zu den Korrekturen vorbeischauten. Die gab es bei Frau Neumann in zwei Geschmacksrichtungen: klassenöffentlich oder privat. Im letztgenannten Fall wurde man mit seinen Arbeiten nach Terminvereinbarungen in ihrem Atelier in der Akademie vorstellig. Alle Professorinnen und Professoren hatten grundsätzlich Anspruch auf ein solches Atelier, aber nicht alle nahmen dieses Privileg in Anspruch, weil sie irgendwo anders ein Atelier für ihren künstlerischen Broterwerb betrieben. Ellen Neumann nutzte ihren Raum aber nicht nur als Atelier, sondern als Bilderlager, Abstellkammer, Salon und Büro – ein herrlich kreatives Chaos, das vor allem nach dem kalten Rauch ihrer unvermeidlichen Orientzigaretten roch.

Daneben gab es während des Semesters einen vierzehntägigen Jour fixe. Zu einer festgelegten Uhrzeit erschien Frau Neumann in der Klasse, sprach ihre Studenten an, ließ sich Arbeiten zeigen, fragte nach, äußerte sich dazu und machte Vorschläge – sie „gab Korrektur“, so nannte man das. Da alle Anwesenden nicht nur dabei waren, sondern sich auch beteiligen konnten, entstanden bisweilen lebendige Debatten um die Kunst im Allgemeinen und Speziellen. Und natürlich vertrat Ellen Neumann ihre besondere Auffassung – ich könnte heute kein geschlossenes System mehr formulieren, aber es ging ihr vordringlich um die Ernsthaftigkeit der künstlerischen Arbeit, also die Bemühung, die Disziplin des Arbeitens, die Selbstkritik. Jede Form des „Irgendwie“ lehnte sie ab, künstlerische Arbeiten mussten ihrer Ansicht nach „gewollt“ sein. Da sie – selbst Malerin farbenfroher, gegenständlicher Bilder – aber keinen Stil bevorzugte, existierten in ihrer Klasse völlig verschiedene Spielarten der Kunst nebeneinander. Die Palette reichte von merkwürdigen Installationen aus Drähten und Holz über die erwähnten Arbeiten von Paul und meine jungwilden Bildern bis zu den minutiös lasierten Gemälden, die Walter Schicht für Schicht und nahezu fotorealistisch pinselte.

Unterm Dach
Das große Los war ein Atelier für zwei unterm Dach. Unmittelbar unter dem First des leicht geneigten Dachs der Kunstakademie führte ein langer Gang vom einem zum anderen Ende, die jeweils per Treppe aus den eigentlichen Treppenhäusern erreichbar waren. Dort gab es links und rechts je zehn oder zwölf kleine Ateliers; kaum dreißig Quadratmeter groß, fensterlos, von oben durch Oberlichter beleuchtet. Ein Teil dieser Räume wurde von den nicht-künstlerischen Professoren genutzt, die meisten aber waren Klassen zur Verfügung gestellt, damit die Meisterschüler der betreffenden Professoren – so sie nicht woanders arbeiteten – ihrem Werk ungestört nachgehen konnten. Aus irgendeinem Grund teilte sich Frau Neumann den Zugriff auf ein solches Atelier mit einem Kollegen, und dessen Meisterschüler war ausgezogen. Als ich davon erfuhr, meldete ich Interesse an und bekam, zumal Paul Mitnutzer wurde, das Nutzungsrecht … und den Schlüssel. Ja, wer oben ein Atelier hatte, bekam den Schlüssel dafür und konnte hinter sich abschließen. Gedacht war dies wieder im Sinne von Meisterschülern, die möglicherweise Arbeiten von Wert dort deponierten. Und weil die Ateliernutzer priviligiert waren, kam noch eines dazu: Man konnte so langte dort arbeiten wie man wollte, auch die ganze Nacht hindurch. Denn auf Anfrage bekam man beim Pförtner den Schlüssel für den Seiteneingang, den man morgens natürlich wieder abgeben musste.

Tatsächlich hatten wir vom Vornutzer eine ranzige Chaiselongue samt passendem Sessel geerbt und improvisierten einen Tisch aus einer Weinkiste oder so. Überhaupt waren die Räume ja auch immer teilmöbliert. Die berühmten Kunstakademietische standen immer in ausreichender Zahl bereit und natürlich die schweren Dreibeinhocker mit der dicken Holzplatte. Auch Staffeleien gab es massenhaft. Es waren jedoch nie genug da, sodass man sich eine beschaffen musste. Im Keller gab es eine Werkstatt, wo die Dinger repariert wurden; dort war auch die Ausgabe untergebracht. Ansonsten war der Keller der Ort der Mensa. Vom Treppenhaus führte ein breiter Gewölbegang auf eine Wand zu, scharf rechts kam man in die drei Speiseräume; die Essensausgabe befand sich im mittleren Raum an der rechten Seite. Regelmäßig ab zehn Uhr morgens zog ein immergleicher Geruch durchs Erdgeschoss und das mittlere Treppenhaus – ganz egal, was auf der Karte des Tages stand. Später fand ich heraus, dass es sich um eine Mischung des verwendeten Speisefetts und der Allzweckwürze Fondor handelte. Daraus wird deutlich, welche Qualität die für extrem kleines Geld angeboten wurde – ich bin sicher, glaube aber, dass das Hauptgericht damals 1,50 DM kostete.

Essenfassen
Auswahl gab es nicht, Salat war selten vertreten. Normalerweise stand eine Tagessuppe simpler Machart an, dann ein Haupgericht nach dem Muster Frikadelle-Gemüse-Salzkartoffeln-Sosse sowie ein Industrienachtisch. Einmal die Woche gabs Eintopf, bei dem auch ein Nachschlag möglich war. Apropos: Da ich gerade im zweiten Jahr an der Akademie notorisch pleite war und mir manchmal selbst das Mensaessen nicht leisten konnte, nahm ich nicht selten den Nachschlag in Anspruch – in dem ich mir den Teller eines anderen Essers lieh und damit zum Schalter gint: Erbsensuppe gratis. Viel wichtiger war die Mensa aber als Ort für abenteuerliche und nicht immer ganz legale Partys.

Um 1972 herum wurde in Kunststudentenkreisen ordentlich gesoffen, aber kaum gekifft, und andere Drogen waren auch eher die Ausnahme. Deshalb bestanden Partys vor allem aus Alkohol, selbstgemachter Musik, wilden Tanzereien und dem Geschlechtsleben. Anlässe brauchte man nicht. Manchmal wurde tagsüber spontan und mehr Mundpropaganda eingeladen, und jeder, der mindestens drei Flaschen Bier oder ine Flasche Wein mitbrachte, kam rein ins Gewölbe. Geraucht wurde wie blöde. In allen Klassenräumen stand eigentlich ständig der Rauch wie Nebel unter den hohen Decken, aber was bei Feten in der Mensa durch die Qualmerei entstand, würde heute Anlass für Anzeigen wegen versuchter Körperverletzung ergeben. Ich erinnere mich an ein wildes Fest da unten, das im Sommer stattfand. Draußen auf dem Gang standen ein paar Typen rum, die ihre E-Gitarren an portable Verstärker angeschlossen hatten, und machten Krach, der gerade noch als Rockmusik durchging. Im hintersten Raum dröhnte Musik von der Platte dagegen, und dazwischen wälzten sich gut hundert Jungs und Mädchen tanzartig über Tisch und Bänke, schweißnass und sturzbesoffen. Als ich nach einem Gang aufs Klo zurückkam, beobachtete ich ein seltenes Phänomen: Aus dem Eingang zur Mensa quoll eine dicke Rauchwolke, die zu Boden absank und wie künstlicher Nebel auf Knöchelhöhe waberte. Drinnen konnte man oberhalb des Zigarttenrauchs gut sehen und sogar atmen. Wer sich hinsetzte, hatte verloren.

Wie ich dann aus den Erzählungen älterer Semester erfuhr, war das alles nicht gegen die legendären Eiskellerbälle, die Jahr für Jahr während der Karnevalstage in der Akademie abliefen; immer über mehrere Tage, immer aus dem Ruder laufend, nicht selten in Orgien gipfelnd und einige Male durch massive Polizeieinsätze beendet. Das große Karnevalsfest 1978, das ich als Nicht-mehr-Studenten besuchte, war zwar nur ein müder Abklatsch, aber immer noch wüst genaug. Dazu später mehr.

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