Weil sie es schon mit meinem Bruder gemacht hatte, verordnete meine Mutter auch mir einen berufspsychologischen Test. Im Frühjahr 1970, gerade siebzehneinhalb, marschierte ich in eine psychologische Praxis an der Brehmstraße, die sich auf jobtechnische Sachen spezialisiert hatte. Heute würden die dortigen Psychologen vermutlich Assessment Center veranstalten. Fast einen ganzen Tag lang dauerte die Sache. Es begann mit einem Intelligenztest und führte über zwei Interviews bis zu allerlei merkwürdigen Aufgaben, die ich zu lösen hatte. Zwei, drei Wochen später bekam ich die Einladung, das Gutachten abzuholen. Bei der Gelegenheit würde man zudem ein persönliches Beratungsgespräch führen. Ich steckte tatsächlich in der Klemme. Seit gut drei Jahren war ich in die Kunst verliebt, ohne aber daran zu glauben, selbst ein bildender Künstler werden zu können. Denn mir mangelte ganz entschieden an den handwerklichen Fertigkeiten. Immer schon hatte ich den Kunstunterricht in der Schule geliebt und den Werkunterricht, den es auch mal eine Zeitlang gab, gehasst. Mir erschien Technik als grundsätzlicher Kreativverhinderer. Und ich wollte ja bloß kreativ arbeiten. Das schon seit meiner Kindheit.

Seit ich halbwegs flüssig schreiben konnte, hatte ich geschrieben: Geschichten, Sprüche, Theaterszenen. Es machte mir Spaß, und ich war offensichtlich begabt. Im Kunstunterricht scheiterte ich meist mi schlampiger Ausführung und kam über eine 3 nicht hinaus. Mir leuchtete aber auch nicht ein, warum ich exakt viereckige Flächen mit verschiedenen Farben ausmalen sollte. Oder Porträts abmalen oder Picasso-Bilder kopieren. Erst der im wahrsten Sinne des Wortes in Ehren ergraute Kunstlehrer Troendle, ein wahrer Künstler dazu, zeigte mir, was Kunst auch sein konnte. Dabei war der extrem streng und vor allem manisch ordnungsliebend. Von ihm stammte die Skulptur vor den Eingängen zur Aula, die unseren Namenspatron, Gottfried Wilhelm Leibniz, zeigte, und er hatte ein Atelier in der Altstadt an der Andreasstraße, gleich neben Fatty’s Atelier. In der ersten Kunststunde bei ihm, es war in der Sexta, bekamen wir eine umfangreiche Einkaufsliste diktiert, in deren Zentrum ein Holzkasten mit Schiebedeckel stand, sein A und O. Dieser Kasten in Schuhkartongröße war das absolute MUSS. In ihm hatte jeder Schüler seine exakt vorgeschriebene Ausrüstung zu verwahren; und die Schatulle verblieb natürlich in der Schule. Alle paar Wochen unternahm Herr Troendle Stichproben, ob man auch alles im Kasten hatte. Falls nicht, gab’s einen Klassenbucheintrag.

Das Kom(m)ödchen
Sein Ton war streng, aber nicht bösartig, und niemals behandelte er seine Schüler ungerecht. Aus heutiger Sicht weiß ich, dass es ihm immer darum ging, uns handwerkliche Mittel an die Hand zu geben, unsere Einfälle kreativ umzusetzen. Wir zeichneten große Bilder mit Kugelschreibern, übten dabei verschiedene Schraffuren und Muster ein. Wir lernten, den gewünschten Ausdruck zu verstärken und ganz praktisch alles, was man wirklich über Farbenlehre und Komposition wissen musste. Wie gesagt: Mehr als eine 3 war für mich da nicht drin. Die Beton-1 kam erst, als die Theorie der Kunst wichtiger wurde als das Malen. Für die Kunst an sich konnte ich mich schon sehr früh begeistern und studierte mit großem Vergnügen die Bildbände, die ich in der Stadtbücherei einsehen durfte – wertvolle Prachtbände, die man natürlich nicht ausleihen konnte und die zu betrachten schon ein Privileg war. Und dann lief mir Möppi über den Weg, ein Klassenkamerad, mit dem ich zuvor eher wenig zu tun hatte. Der war 1966 als Austauschschüler in England, weil er ein Jahr älter war als ich. 1967, kurz nach dem Tod meines Vaters, ging ich dann für ein paar Monate auf die Insel. Dieses Erlebnis verband uns – aber vor allem die Kunst. Denn über Jörg, so sein richtiger Name, kam ich an einen Job am Düsseldorfer Kom(m)ödchen, wo seine Mutter für die Kostüme und das gute Aussehen der großen Lore Lorenz zuständig war.

Die drei oder vier Jahre, in denen ich quasi zur erweiterten Kom(m)ödchen-Familie gehörte, haben mich so nachhaltig geprägt wie sonst nur wenig in meinem Leben. Jörg hatte dort schon immer gejobbt, zum Beispiel an der Zuschauergarderobe. Nun waren wir das Team, dass die Bühne abzubauen und einzuladen hatte, wenn das Ensemble einen „Abstecher“ unternahm, also auf eine Kurzgastspieltour ging. Wir traten den Dienst nach dem Ende einer Vorstellung an und wuselten mit den Kulissen und Requisiten durchs Haus, während die Zuschauer noch an der Bar standen und sich die Ensemblemitglieder unter ihre Fans gemischt hatten. Damals war das zu jener Zeit wohl beste deutsche Kabarett schon in der Kunsthalle untergebracht. Von den Räumen hinter der Bühne aus gab es eine Tür zum „geheimen“ Treppenhaus der Kunsthalle, außerdem eine Fluchttür im Foyer. Beide benutzten wir als Transportwege zum unten abgestellten Ford Transit. Je schneller wir fertig waren, desto mehr Möglichkeiten hatten wir, uns unter die Erwachsenen zu misch und die Ohren und Augen aufzusperren. Sobald die Truppe wieder zurück war, war es dann unser Job, die Bühne wieder aufzubauen.

Noch spannender waren aber die Proben. Sobald es Proben mit Bühnenbild gab, waren wir vor Ort, um auf Anweisung von Konrad Lorenz als Regisseur, Kulissen und Requisiten umzustellen. Die Vorbereitungen des einzigartigen Programms „Es geht um den Kopf“ im Jahr 1969, dem Jahr, in dem Willy Brandt Bundeskanzler in der ersten sozalliberalen Koalition wurde. Auf Brandt und die Sozialdemokraten hatten damals vor allem die Intellektuellen und die Künstler gesetzt, aber auch viele Linke und überzeugte Demokraten wollten den Wandel, weil die Bundesrepublik unter Adenauer und seinen nachfolgern Erhardt und vor allem Kiesinger in den Füfzigerjahren steckengeblieben waren und es im Land an Demokratie, an Transparenz und Mitbestimmung mangelte. Das Kom(m)ödchen war deshalb eine besondere Art Wahlkampfhilfe, weil es – mehr als jedes andere Kabarett dies je getan hatte, nur der Mann mit Pauke, Wolfgang Neuss, war Jahre zuvor schon ähnlich radikaldemokratisch vorgegangen – alle Themen behandelte, um die es bei dieser Wahl ging. Und so wurde während der Proben auch fortwährend diskutiert. Manchmal wurde eine Probe unterbrochen, weil man sich gegenseitig die Zeitung vorlas – das alles war Politik pur. Und es politisierte mich zutiefst.

Ein Leben für die Kunst
Mit dem Kom(m)ödchen, den Lorenzens, den Mitarbeiter und den unglaublich netten Ensemblemitglieder (neben Lore Lorentz noch Ernst H. Hilbich, Michael Uhden und Werner Vielhaber) kam ich zum ersten Mal in Berührung mit Menschen, die sich interessierten, die nachdachten, die zu diskutieren wussten und die die Kunst in allen ihren Formen liebten. Den größten Einfluss in jener Zeit hatte aber Möppis Mutter, Barbara W., mit der wir Jungs über alles debattieren konnten und wo wir Zugang zu allem hatten, was mit Kunst zu tun hatte. Für Jörg war ohnehin klar, dass er Künstler werden würde, zumal seine Bilder schon damals eine Menge Talent zeigten. Ihm finanzierte seine Mutter sogar einen Fernlehrgang in Kunstmalerei. Wir hörten Musik, also die intellektuelle Seite der damaligen Rockmusik (Zappa, Beefheart, Psychedlic und so weiter), und wir rannten in Museen und Ausstellungen. Ja, bei einigen Düsseldorfer Künstlern schneiten wir in deren Ateliers hinein. Es war klar: Wir wollten zur Kunstakademie!

Im Jahr 1969 hatten clevere Werbefuzzis eine Messe namens „Teenage Fair“ für die jungen Konsumenten veranstaltet. Wir nahmen das Thema auf, und ein Jahr später fand im Haus der Jugend an der Lacombletstraße „Teenage Art“ statt, die Kunstmesse für Jugendliche. Zusammen mit Jörg gestaltete ich einen Raum. Wir waren damals begeistert von der kinetischen Kunst, von Bildern auf Materialien wie Alufolie, von psychdelischem Kram, von der Antikunst und, ja, irgendwie auch von Beuys. Dem war ich im Frühjahr 1969 in der Kunsthalle begegnet. Die Geheimtür vom Kom(m)ödchen ins Kunsthallentreppenhaus war nämlich auch unser Zugang in den Tempel der Kunst. Und an jenem Tag war Beuys gerade dabei, Exponate für eine Ausstellung seiner Werke aus der Sammlung Ströher zu arrangieren – u.a. mehrere riesige Filzstapel, die mit Kupferplatten abgedeckt waren. Ich hatte zuvor noch keine Beuys-Skulptur im Original gesehen, und diese gewaltigen dinklen Blöcke berührten mich zutiefst. Lösten so etwas wie Unruhe aus, ja, sogar eine gewissen Aggression und Wut, Emotionen, die ich auch heute noch bei skulpturalen Arbeiten von Beuys bekomme. Und ganz allein stand der Mann mit dem Hut im größten Raum der ersten Etage und schob einen in Filz gewickelten Stab mit dem Fuß hin und her. Ich traute mich nicht, ihn anzusprechen und verschwand.

Nachdem ich Joseph Beuys im Umfeld der Grünen persönlich kennengelernt und mehrhmals mit ihm gesprochen hatte, beichtete ich ihm einmal diesen Vorfall. Seine Reaktion: „Ich hab dich da gar nicht gesehen. Schade, genau in dem Augenblick hätte ich einen Ratschlag brauchen können, wohin der Stab gehört hätte.“ Von diesem Tag im April 1969 an wurde Beuys bis zu seinem Tod jemand, der mich massiv beeindruckt und beeinflusst hat.

Jörg und ich hatten uns massenhaft Molton und Bühnensamt geliehen und unseren Raum im HdJ komplett schwarz verhüllt. Jörgs Bilder waren einzeln beleuchtet, psychedlische Malereien auf Alufolie in richtigen Kunstbilderrahmen. Ich hatte einen Kasten mit einer Kantenlänge von 100 mal 100 mal 60 Zentimetern aus Spanplatte gebaut und von innen und außen mattschwarz angestrichen. In der Mitte befand sich ein Loch, in das jeder Betrachter seinen Kopf zu stecken hatte, wobei er einen kleinen Samtvorhang zu überwinden hatte. Im Inneren hingen Ketten und Metallstäbe, die von winzigen Lichtern (geklaut im Modeleisenbahnbedarf bei Ziem an der Heinrich-Heine-Allee) in schummrigen Schein gehüllt waren. Außerdem hatte ich einen ebenfalls mit schwarzem Samt belegten Tisch aufgebaut. Darauf hatte ich ein Dutzend Werkstücke aus Eisen gelegt – alles Arbeiten, die mein Bruder im Rahmen seiner Lehre hatte anfertigen müssen.

Mach was du willst
In diesen Tagen trat in der Halle des HdJ übrigens eine merkwürdige Band auf, die sich „Organisation“ nannte. Drei Typen mit Synthesizern, einer davon mit Querflöte, machten merkwürdigen Krach, und knapp fünfzig Leute schauten zu. Das seien Kunststudenten, hieß es. Wie es in den Sechzigerjahren sehr oft hieß, wen nirgendwo andere Musik erklang als Beat und Jazz, denn alles, was musikalisch experimentell war, kam aus den heiligen Hallen des eindrucksvollen Gebäudes zwischen der Altstadt und dem Rhein. Alles war Experiment: Kraftwerk war Experiment, was Charles Wilp tat, war Experiment, alles war Kunst, und wir waren mittendrin. Dass ich mittendrin bleiben wollte, war klar. Nur in welcher Rolle, das blieb mir schleierhaft. Den Schleier konnte auch der Berufspsychologe nicht lüften. Seine Analyse war dementsprechend. Er bescheinigte mir eine hohe Intelligenz (laut IQ im Bereich der oberen 5 Prozent der Menschen), ein ausgeprägtes mathematisches und räumliches Denken, Stärken in der Logik, aber auch eine außergewöhnliche sprachliche Begabung. Dies alles seien Voraussetzungen dafür, jedes beliebige naturwissenschaftliche Studium erfolgreich absolvieren zu können. Fürs Kaufmännische würde meine mathematische Seite auch reichen. Aber dem entgegenstünden ja meine Neigungen, die alle in Richtung Kunst und Kreativität zeigten. Insofern habe er zwei konkrete Vorschläge: Architekt mit der Ausrichtung „Kunst“ oder Werbekaufmann mit Schwerpunkt auf Konzeption und Text.

Und damt entließ mich der gute Mann genauso ratlos wie zuvor. Wer mich auf das sehr schmale Brett getrieben hatte, zwar Kunst zu studieren, dabei aber das Lehramt Sekundarstufe II anzustreben, weiß ich nicht mehr. Ein guter Ratgeber wäre auch der nicht gewesen. Aber immerhin gelang es mit so, ab Oktober 1971 an der Düsseldorfer Kunstakademie studieren zu dürfen – beginnend im Orientierubsbereich bei Professorin Beate Schiff.

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